Zu Weihnachten
Zu Weihnachten
Eine Lebensgeschichte
Gut auskommen, mit dem, was man hat. Komfortabel leben. Vielleicht etwas zur Seite legen. Nicht jedem ist das vergönnt. Die meisten leben – so macht es oft den Eindruck – in Saus und Braus. Sie konsumieren, als gäbe es kein Morgen. Aber nicht jeder kann, nicht jeder will da mithalten. Einige von denen, die nicht mithalten können oder wollen, trifft man natürlich auch in Groß Borstel. Im Dezember fallen die letzten Blätter von den Bäumen. Nach einem langen Sommer steht Weihnachten plötzlich vor der Tür. Geht man durch unseren Stadtteil, spürt man, die Leute rücken ein wenig enger zusammen. Es wird früh dunkel, die Zimmer in den Häusern sind hell erleuchtet. Groß Borstel hat das große Glück, ein überschaubarer Stadtteil zu sein. Man kennt Ali, den allseits beliebten Gemüsemann. Man trifft Yavus Özgen von der Tankstelle. Oder leiht sich mal einen Euro für den Einkaufswagen von Herrn Krützfeldt, dem Hinz & Kunzt-Verkäufer beim Aldimarkt. Der hilft gerade einer alten Dame mit den Einkaufstaschen. Wird belohnt mit einem Lächeln, verabschiedet sich freundlich. Und hält dem nächsten Kunden die Tür auf. Man freut sich, bekannte Gesichter zu sehen. Und wenn es allen gut geht. Zu Weihnachten kommen bei Vielen familiäre Gefühle hoch. Man schmückt den Adventskranz, die Augen der Kinder leuchten. Vorfreude auf das Weihnachtsfest. Es ist ein Glück, Familie zu haben. Diejenigen, die allein leben, haben dennoch ein Gefühl der Dazugehörigkeit. Dem Grunde nach ist es dieses familiäre, weihnachtliche Gefühl, dass sich im Dezember in Groß Borstel besonders ausbreiten will. Wie geht’s eigentlich Herrn Krützfeldt? Ich habe ihn lange nicht beim Aldi gesehen. Ein kleiner Tratsch nebenbei. Dem geht es gut. Der hat jetzt eine Wohnung. Gemeinde, das bedeutet Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft. Das ist mehr als nur Stadtteil, das ist ein Füreinander da sein. Gemeinde heißt natürlich auch Kirchengemeinde, St. Peter in Groß Borstel ist wie selbstverständlich dabei. Und die vielen anderen Organisationen des Stadtteils auch. Aber ein Beispiel, das nicht oft genug genannt werden kann, ist der Borsteler Tisch. Seit mehr als fünf Jahren, jeden Mittwoch 13 bis 15 Uhr werden im Jakob-Junker-Haus an der Borsteler Chaussee Lebensmittel und Kleidungsstücke ausgegeben. Für Bedürftige aus Groß Borstel und den umliegenden Stadtteilen, komplett organisiert von Ehrenamtlichen. Ehrenamtliche fahren zu den Supermärkten und besorgen Lebensmittel, teilweise aussortierte Lebensmittel mit gerade abgelaufenen Haltbarkeitsdatum. Oder es sind Spenden von den Einzelhändlern. Ehrenamtliche stehen am Tresen bei der Lebensmittelausgabe. Sie bringen selbst gebackenen Kuchen mit. Der Lohn? Ein Lächeln. Ein Dankeschön. Auch Bewohner des Jakob-Junker-Hauses helfen mit. Einer von ihnen ist Dieter S. Herr S. ist nach eigener Auskunft eigentlich „Eigenbrötler, einer der sehr gut allein zurechtkommt“. Sein ganzes Leben ist er allein ausgekommen. Er wohnt seit einem Jahr im Jakob-Junker-Haus. Hat davor „Platte gemacht“, auf der Straße gelebt. Nur ein paar Monate. Aber immerhin. Wie ist es dazu gekommen? Herr S. wohnt sichtbar gerne im Jakob-Junker-Haus, zeigt freudig und auch ein wenig stolz den neuen Essenssaal, der gerade aufwendig renoviert und umgebaut wird. Dieter S. ist ein großer schlanker, hagerer Mann um die Sechzig, mit leicht gebeugter Haltung und einem wachen, freundlichen aber scheuen Blick. Er spricht in kurzen Sätzen. „Wie es dazu gekommen ist?“ Nachdenklich blickt er aus dem Fenster und antwortet: „Arbeit weg, Wohnung weg. Punkt.“ S. wurde in Ratzeburg geboren, lebte zunächst bei Oma und Opa, dann bei der Mutter in Salem. Mit Sechzehn begann er eine Lehre als Landwirtschaftsgehilfe, die er zwei Jahre später abschloss. Er malochte viele Jahre für geringen Lohn auf einem Bauernhof, in den Sommermonaten von sechs Uhr morgens bis elf Uhr abends. Was war das Schönste an dem Job? Die Sommermonate! Dann im Straßenbau, dort gab es besseren Lohn. Für die Telekom, die damals noch Post hieß. Leitungen verlegen. Ein Knochenjob, bei jedem Wetter. Neun Jahre später Schausteller auf dem Dom, Zelte aufbauen. Große Festzelte. „Zum Ochsen. Gibt’s heute nicht mehr.“ Frühjahrsdom, Sommerdom, Herbst und Winter. Das ging das ganze Jahr. Und wenn das Zelt aufgebaut war, also zwischen Aufbau und Abbau, was haben Sie dann gemacht? „Toilettenmann, tja…“ Herr S. lacht kurz. Aber es ist ihm nicht peinlich, als Toilettenmann gearbeitet zu haben. Er schüttelt den Kopf. „Nee! Die Arbeit musste ja gemacht werden.“ Nach dem Job auf dem Dom ging es weiter bei einer Lübecker Firma, Zelte aufbauen. Europaweit. Wieder ein Knochenjob. Bis August 2017. „Arbeit weg, Wohnung weg.“ Warum, was war passiert? „Ging nicht mehr. Schluss aus. Die Knochen.“ Leben auf der Straße. „Ich hatte einen Spitzenplatz, den kannte keiner.“ Mittags traf man sich im Herz As in der Kaiser-Wilhelm-Straße zum Kaffeetrinken. Dort gab man ihm den Tipp, sich beim Jakob-Junker-Haus um ein Zimmer zu bewerben. Das war vor einem Jahr. Jetzt bekommt er auch Hartz IV. Er kommt mit dem Geld aus. Er braucht keinen Alkohol. Herr S. braucht überhaupt nicht viel zum Leben. Zigaretten? Ja, früher. Sechzig Stück. Jeden Tag. Zweimal in der Woche besucht Herr S. einen Kollegen. Der sitzt im Rollstuhl, wohnt in der Nähe der S-Bahn Landwehr. S. schiebt ihn, damit der Kollege mal rauskommt. Montags ist immer Klönschnack im Jakob-Junker-Haus, dann treffen sich alle Bewohner. Mittwoch hilft S. beim Borsteler Tisch, donnerstags muss er zum Arzt. Was wünscht sich Herr S.? Er muss nachdenken. Ganz bescheiden kommt aus ihm heraus: „Dass es so bleibt.“ Und nach einer Pause: „Vielleicht, dass ich gesund werde. Dass es mit dem Rücken wieder wird.“ Keine Reichtümer, keine Luxusyacht, kein SUV. Dass es so bleibt. Und Gesundheit. Kein Leben in Saus und Braus, kein immer Mehr und Mehr. Bescheidenheit. Dieter S., ein Mensch, der unsere Hochachtung verdient.
Text + Foto: Uwe Schröder