HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN Schokolade und Lofts

Vor fast zehn Jahren, im September 2009, wurde am Borsteler Bogen 27 Richtfest gefeiert. Im Auftrag von Kurt Beer und seiner „Atrium Borsteler Bogen (ABB) Studiolofts GmbH & Co KG“ entstand hier auf dem Gelände einer alten Schokoladenfabrik ein modernes Bürogebäude, die Groß Borsteler „Studiolofts“.

Den Entwurf für die Neugestaltung hatte das Berliner Architekturbüro Pott Architects geleistet. Ingo Pott war seinerzeit einer der Architekten im Team von Norman Foster beim Umbau des Reichstages in Berlin gewesen und hat sich mit seinem eigenen Büro unter anderem auf die Modernisierung und den Umbau von alten Fabriken, Industrieanlagen und Werkstätten spezialisiert. Die Werkschau auf der Webseite des Büros (www.pottarchitects.com) ist beeindruckend. Auch der Umbau der alten Groß Borsteler Schokoladenfabrik in eine elegante Bürolandschaft ist gut gelungen.

Auf 3000 qm Nettofläche wurden 23 Studios und Lofts (www.studiolofts.de) mit Größen zwischen 80 und 300 qm angelegt, vor allem für Firmen mit kreativer Ausrichtung gedacht. Eine Zeit lang hatte hier zum Beispiel die Firma der Oscar-Gewinner Lauenstein und Lauenstein ihren Sitz. Auch das „Trip“-Magazin wird in den Lofts am Borsteler Bogen entworfen.

Ein halbes Jahrhundert bevor die Kreativen am Borsteler Bogen einzogen hatte die „Anglas Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik Ulrich Thomas“ hier ihre Produktionsstätte. Die Verwaltung der Firma befand sich in der Mönckebergstraße 13. Die Groß Borsteler Geschichte der Anglas Schokoladenfabrik währte nur kurz, von 1950-1957. Eigentlich war die Firma hier gestrandet. Ihre Geschichte begann 100 Jahre vorher in Russland.

Im Jahr 1849 gründete Kalonimus Wolf Wissotzky in Moskau die Wissotzky Tea Company. Seine Firma war bald der größte Teeproduzent im Russischen Reich. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich die Wissotzky Tea Company auch außerhalb Russlands aus, gründete Filialen in Deutschland, Frankreich, New York und Kanada und 1907 eine Schwesterfirma in London, die Anglo-Asiatic Company mit eigenen Teeplantagen in Indien und Ceylon. Die Wissotzky Tea Company wuchs weiter und stieg schließlich sogar zum größten Teeproduzenten der Welt auf.

Dann kam es in Russland zur Revolution. Nach der Machtübernahme der Bolschewiken begannen diese, alle großen privaten Unternehmer zu enteignen, auch die Wissotzky Tea Company. Die jüdische Wissotzky-Familie verließ Russland. Einige Familienmitglieder ließen sich in den USA nieder, andere in verschiedenen Ländern in Europa. Die Zentrale der Firma wurde nach London verlegt. Eine wichtige Produktionsstätte befand sich nun in Danzig. Neben der Teeproduktion wurde die Firma auch auf anderen Gebieten aktiv und nahm unter anderem die Produktion von Schokolade auf.

Im 15. Jahrhundert hatten die Spanier aus ihren amerikanischen Kolonien die ersten Kakaobohnen nach Europa mitgebracht. Lange wurde der energiereiche Kakao nur vom europäischen Adel als Medizin verwendet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sanken dann die Preise für Rohkakao und die Verfahrenstechniken zur Produktion verbesserten sich. Der Holländer Coenraad Johannes van Houten hatte 1828 beispielsweise eine hydraulische Presse entwickelt, mit der man den Fettgehalt der Kakaobutter deutlich reduzieren konnte, was die Herstellung von Schokolade erheblich erleichterte. Die industrielle Produktion der Schokolade begann.

In Deutschland wurden Firmen wie Halloren (als Bäckerei seit 1804 in Halle), Jordan & Timaeus (1823 in Dresden), Stollwerk (1839 in Köln) gegründet. In der Schweiz waren Cailler (1816 in Vevey, gehört heute zu Nestlé), Suchard (1824), Lindt und Tobler (1830) die ersten Schokoladenfabrikanten.

Nach dem Rückzug von Napoleon und der Rückkehr ins Preußische Reich wurden Anfang des 19. Jahrhunderts auch in Danzig eine Reihe von Schokoladenfabriken gegründet. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Danzig aufgrund der besonderen neuen Lage der Stadt, umgeben vom neu geschaffenen Staat Polen, sogar zu einer Art Zentrum für die Schokoladenherstellung. Große Firmen wie Sarotti und Dr. Oetker unterhielten hier Fabriken.

1923 hatte die Familie Wissotzky im Danziger Stadtbezirk Oliwa unter dem Namen der Anglo-Asiatic Company Ltd ihre eigene Schokoladenfabrik gegründet. Ab 1930 nannte sie sich und ihre Schokolade „Anglas“. Das Gesamt-Unternehmen wurde von London und Paris aus von den Brüdern Ilia und David Wissotzky geleitet. In der Danziger Filiale führten Alexander Chmerling und Solomon Seidler, beide ebenfalls Abkömmlinge der Wissotzky-Familie, die Geschäfte.

Anglas Vertrieb

Anglas stellte Schokoladenprodukte her, aber auch Kaffeemaschinen und importierte natürlich auch weiter Tee aus den firmeneigenen asiatischen Plantagen. Anfang der 1930er Jahre florierte das Geschäft und die Anglas überflügelte mit ihrem Umsatz bald den örtlichen Marktführer Kosma AG. 1933 übernahmen aber die Nationalsozialisten auch in Danzig die Macht und setzten ihre antisemitischen Ideen durch. Die jüdischen Geschäftsführer wurden aus dem Vorstand gedrängt, die Anglas wurde zwangsweise mit der Firma des Danziger Unternehmers Ulrich Thomas fusioniert. Ulrich Thomas war Inhaber der Schokoladenfabrik Olka und vermutlich auch schon Anteilseiger bei der Anglas.

Vorgänger des Panini-Albums: Sammelbilder der Anglas Schokoladenfabrik in Danzig

Im Krieg wurde das Fabrikgebäude der Anglas in Danzig zerstört. Die Firmenleitung wurde nach dem Krieg vertrieben, ließ sich in Hamburg nieder und eröffnete 1950 am Borsteler Bogen mit ihrem Know-how die „Anglas Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik Ulrich Thomas“.

Die Schokoladenproduktion in Groß Borstel währte allerdings nur sieben Jahre. Mitte der 1950er Jahre wurden die Kakaobäume in Westafrika vom „Swollen-Shoot-Virus“ befallen. Anfang 1957 explodierten die Preise für Rohkakao. Statt drei Mark pro Kilo im Herbst 1956 wurden im April 1957 sechs Mark pro Kilo verlangt. In der Folge gerieten die großen Schokoladenimporteure in massive Liquiditätsschwierigkeiten und konnten ihre Kunden nicht mehr versorgen. Besonders die kleineren Firmen hatten nicht genug Kapitalreserven, um die Krise zu überstehen. In Hamburg gingen im April 1957 gleich mehrere Importeure und Schokoladenfirmen Bankrott. Eine von ihnen war die Groß Borsteler Anglas Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik Ulrich Thomas.

Das Erbe der eigentlichen Anglas-Gründer, der Familie Wissotzky, lebt noch in Israel fort. Der Sohn des Danziger Geschäftsführers Solomon Seidler, Simon Seidler, hatte schon 1936 wegen der antisemitischen Kampagnen und eines drohenden Krieges eine Filiale der Wissotzky Tea Company in Israel gegründet. Die Firma besteht bis heute unter diesem Namen fort und ist der größte Tee-Produzent Israels.

Die Schwesterfirma Anglo-Asiatic Company Ltd in London wurde nach dem Tod des letzten Inhabers Boris Lourie, der 1950 bei einem Autounfall starb, aufgelöst.

Am Borsteler Bogen übernahm nun die Firma Bran & Lübbe, Spezialist für Dosier- und Prozesspumpen sowie Mischsysteme, die Fabrikgebäude der Konkurs gegangenen Schokoladenfabrik. In den 1980er Jahren zog Bran & Lübbe nach Norderstedt um. Die Gebäude wurden an verschiedene Betriebe vermietet, bevor schließlich die Studiolofts gebaut wurden.
André Schulz

Verpackungsdesign der Vorkriegszeit