HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN
Borsteler Chaussee 1
Das ehemalige Dorf Groß Borstel im Hamburger Umland hatte zwar nie ein Eingangstor, so etwas war nur befestigten Städten vorbehalten. Aber eine Art Eingang gab es schon. Nach Groß Borstel kam man über die Alsterkrugchaussee und ins Dorf hinein auf der Borsteler Chaussee. Und am Beginn der Borsteler Chaussee, auf der linken Seite, wenn man nach Groß Borstel einfährt, steht seit fast 150 Jahren, seit 1878, das Haus mit der Nummer 1.
Das alte und eher kleine Haus fällt heute kaum auf. Zuletzt wurde die Fassade in dunklem Blau gestrichen, quasi in Tarnfarbe. Schön ist das nicht. Vielleicht war das ein Zugeständnis an den vorbeifließenden Straßenverkehr und den damit verbundenen Straßenschmutz. Ein weißes Haus würde wohl bald ergrauen. Aber vor einigen Jahren strahlte das Haus an der Borsteler Chaussee 1 noch in Weiß und wurde noch in seiner ursprünglichen Bestimmung genutzt – als Gasthaus.
Als das Haus an der Borsteler Chaussee 1878 gebaut wurde, befand es sich in einer ruhigen und idyllischen Umgebung. In unmittelbarer Nähe floss die Tarpenbek vorbei, die früher wohl mehr Wasser führte als heute. Der Platz war auch aus anderen Gründen gut gewählt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Borsteler Chaussee befand sich ein Schießstand. Die Anlage begann nahe der Straße und reichte etwa 1000 Meter tief in das Eppendorfer Moor hinein. Die Infanteristen, Jäger und Schützen, die hier ihre Schießkünste übten, werden sicher danach gerne im Gasthaus ihren Durst gestillt haben. Und so hieß das Gasthaus dann auch „Gasthaus zum Alten Schießstand“.
Auf einer Ansichtskarte aus der Zeit um 1900 erkennt man auf einem Schild den Inhaberhinweis „C. Rüter“. Einen Fernsprecher hatte das Gasthaus auch schon. Die Nummer ist über der Tür an der Ecke des Hauses angeschlagen: Nr. 1586. Das Haus hatte zwei Stockwerke, mit großen freundlichen Fenstern. Vor dem Gasthaus befanden sich Tische und Bänke, Laternen, die bei einbrechender Dunkelheit Licht spendeten, und viel Grün drumherum.
Das Militär war aber sicher nicht der einzige Abnehmer der angebotenen Speisen und Getränke. Die vor dem Eckhaus ebenfalls verlaufende Alsterkrugchaussee war die Verbindungstraße von Eppendorf Richtung Norden. Von hier reiste man über Fuhlsbüttel, Langenhorn, Henstedt und Ulzburg bis Kaltenkirchen und weiter. Oder in umgekehrte Richtung. Im „Gasthaus zum Alten Schießstand“ konnten die Reisenden in Richtung Hamburg eine Rast einlegen und sich schon mal überlegen, ob sie Waren an der Zollstation, der „alten Accise“, angeben wollten, die auf der Brücke über die Tarpenbek ihren Standort hatte.
Wer heute an der gewaltigen Kreuzung Borsteler Chaussee / Deelböge / Alsterkrugchaussee / Rosenbrook steht, benötigt schon einige Fantasie, um sich vorzustellen, wie es damals hier ausgesehen hat. Die Alsterkrugchaussee machte einst am „Gasthaus zum Alten Schießstand“ einen Bogen nach links und führte um den Mühlenteich herum nach Eppendorf hinein, wo sie in die Eppendorfer Landstraße überging. Heute ist das der Salomon-Heine-Weg. Da die Verkehrsströme jetzt an dieser Straße gänzlich vorbeilaufen, hat der Weg sich etwas vom ursprünglichen Charme bewahrt.
Der Mühlenteich nebenan ist fast so alt wie der Alsterstausee. Der Alstersee wurde 1190 angelegt, ursprünglich auch für eine Mühle. Der Eppendorfer Mühlenteich entstand 1263. Damals staute man die Tarpenbek hier zwischen Groß Borstel und Eppendorf auf und errichtete kurz vor der Einmündung in die Alster die Eppendorfer Mühle. Diese stellte 1865 ihren Betrieb ein. Danach wurde sie noch einige Jahre als Gasthaus genutzt, 1903 aber wegen Baufälligkeit abgerissen. An ihrer Stelle steht heute das Café Zur alten Mühle, daneben das Bootshaus Barmeier. Vor dem Café kann man übrigens einen der ältesten Bäume Hamburgs bewundern. Die Stieleiche vor dem Haus wurde um 1785 gepflanzt, ist also etwa 235 Jahre alt.
Von der Eppendorfer Mühle war und ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Eppendorfer Markt. Auf dem Weg dorthin konnte der Reisende bis 1914 eine Militärbadeanstalt sehen, die am Winterhuder Ufer der Alster angelegt war, am Winterhuder Kai. Zwischen 1913 und 1926 wurde dann, etwas weiter die Alster hinauf, eine öffentliche Badeanstalt gebaut. Das Sommerbad am Lattenkamp existierte einige Jahrzehnte, wurde aber in den 1980er Jahren wegen eines Bauvorhabens an der Bebelallee geschlossen und abgebaut.
Am Eppendorfer Markt stand lange eine Droschkenstation, daneben ein Brauhaus. 2015 endete auch die 200-jährige Geschichte des Brauhauses. Ein Investor ließ es abreißen. Zuletzt war in dem Gebäude das italienische Restaurant „Tre Castagne“ untergebracht.
In den 1970er Jahren wurde die wachsende Großstadt Hamburg in eine „verkehrsgerechte“ Stadt umgebaut. Dazu gehörte die Zusammenlegung von über 25 Straßen zu einem großen halbkreisförmigen Straßenring, dem so genannten „Ring 2“. Die Straßen wurden auf vier, abschnittsweise sogar auf sechs Spuren ausgebaut. Dort, wo Straßen noch nicht miteinander verbunden waren, schlug man Schneisen in die Stadt und riss die vorhandene Bebauung ab.
Am Rosenbrook wurden die Gewässer Tarpenbek und Mühlenteich kurzerhand überdeckelt. Wer hier heute mit dem Auto lang braust, bekommt von der Landschaft unter ihm nichts mit. Fahrradfahrer kennen das immer noch schöne Gelände von der Fahrt mit dem Rad auf dem schmalen Weg am Tarpenbek-Ufer nach Eppendorf hinein. Man fährt unter dem Ring 2 hindurch. Am Mühlenteich stehen nun zwischen den Bäumen und Sträuchern auch schwere Betonpfeiler, die die breite Fahrbahn darüber tragen.
Der Rosenbrook ist sogar das am meisten befahrene Teilstück des Ring 2. Die letzte Messung des Verkehrsaufkommens stammt aus dem Jahr 2013. Damals zählte man 65.000 Autos an jedem Werktag. Heute werden es wohl etliche mehr sein. Die Lärmbelastung hier wurde am Tage mit 75 dBA angegeben, nachts stellenweise immer noch mit 70 dbA. Der Grünstreifen zwischen den beiden Fahrstreifen am Rosenbrock wurde nicht etwa deshalb angelegt, um einen natürlichen Ausgleich zum Verkehrsaufkommen zu schaffen, sondern als Ausbaureserve, falls das Verkehrsaufkommen sich weiter erhöht. Dann hätte man schon den Platz, um die Straße noch einmal zu erweitern.
Beim Anblick von Tausenden von Autos, darunter etwa 15 % Schwerkraftverkehr, kann man das beste Essen nicht genießen. Mehrere Pächter versuchten im Haus an der Borsteler Chaussee die Gasthaus-Tradition fortzuführen. Es gab ein Restaurant mit süddeutscher Küche, dann orientalische Küche. Der letzte Versuch, hier eine Gaststätte oder ein Restaurant zu betreiben war das La Bohème, ein gemütliches Restaurant für etwas gehobenere Ansprüche mit französischer und italienischer Küche. Doch so lebendig, wie auf der Ansichtskarte von 1900 wurde es hier nicht mehr. Das Restaurant wurde aufgegeben, das Gebäude als Büro und zuletzt wohl als Unterkunft für EU-Wanderarbeiter genutzt.
Das Haus an der Borsteler Chaussee 1 soll nun abgerissen werden und einem Hotelneubau weichen, ebenso die Autowerkstatt von Thomas Knaack gleich daneben am Rosenbrook. Das Hotel ist mit 109 Betten geplant. Die Gäste können ihre Fahrzeuge in einer Tiefgarage unter dem Hotel abstellen. 29 Stellplätze sind vorgesehen. Ein entsprechender Bauantrag wurde dem Bezirksamt Nord im April 2019 vorgelegt und wird derzeit noch geprüft.
Das Denkmalamt hat den Denkmalwert des Hauses Borsteler Chaussee Nr. 1 bereits begutachtet und einen Denkmalschutz abgelehnt. Das Bezirksamt Nord verweist darauf, dass diese Stelle von Groß Borstel als Gewerbegebiet ausgewiesen sei. Angesichts der hohen Belastung durch den vorbeifließenden Straßenverkehr seien Wohnungen hier nicht realisierbar. Das ist wohl wahr.
André Schulz