GROSS BORSTELS LEBENSMITTEL-RETTERIN

Täglich sortieren Lebensmittelhändler Unmengen an noch genießbaren Waren aus. Entweder kurz vor dem aufgedruckten Haltbarkeitsdatum oder knapp danach. Bäckereien vernichten Brot, Brötchen oder Kuchen, die noch lecker aussehen, aber eben von gestern sind und nicht mehr verkäuflich.

Häufig bietet der Handel Lebensmittel im Dreierpack an, etwa Paprika oder Salat. Sieht einer der Salatköpfe schlapp aus, kommt das gesamte Dreierpack in die Tonne beziehungsweise in den Container. Ein Ei ist kaputt? Auch dann wird nicht lange gefackelt und etwa umsortiert, nein die restlichen neun Eier der Packung landen ebenfalls im Container.

Andrea Lewing, Lebensmittelretterin

„Ich rette Lebensmittel“, sagt Andrea Lewing (46), als sie beim Boten anruft und fragt, ob wir darüber berichten möchten. Zuerst dachte ich, sie holt die Lebensmittel aus dem Container, sozusagen aus dem Müll. Das ist aber nicht so. Sie rettet keine weggeschmissenen Lebensmittel, sondern Lebensmittel, die für die Entsorgung vorgesehen sind, aber noch bedenkenlos genutzt werden können. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.

Hier treffen sich zudem die Interessen der Lebensmittelhändler mit denen der Lebensmittelretter: eine Win-win-Situation, wie man neudeutsch sagt. Die Lebensmittelhändler ersparen sich einen Teil der Entsorgungskosten, beteiligen sich an einer gemeinnützigen Sache, und die Lebensmittelretter holen sich gute Lebensmittel ab, die sie verteilen dürfen.
„Wie verteilst du die Lebensmittel?“, frage ich Andrea Lewing. „Ich habe eine WhatsApp-Gruppe. Der teile ich dann mit, wenn ich eine frische Lieferung habe.“ Die Lebensmittel bringt sie zu einem Treffpunkt, beispielsweise in die Kehre beim Wigandweg, und dort kann sich jeder kostenlos bedienen.
„Was unterscheidet dein Angebot von dem der Tafeln oder vom Borsteler Tisch?“ Der Borsteler Tisch nimmt, so Andrea Lewing, keine Lebensmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Die gehen dann über Andrea Lewing in die Verteilung. Teilweise holt sie auch überschüssige Lebensmittel vom Borsteler Tisch beim Jakob-Junker-Haus ab. Zumeist jedoch von verschiedenen Kaufland-Filialen oder Edeka-Märkten.

Über 3000 Lebensmittelretter gibt es allein in Hamburg. Sie sind über verschiedene Organisationen verteilt und von den abgebenden Läden fest eingeplant. So werden beispielsweise Slots vergeben, also genaue Zeitfenster, in denen die infrage kommenden Lebensmittel auf Paletten an die Lieferrampe gestellt werden, damit sie von den Organisationen jeweils abgeholt werden können (und sich die verschiedenen Organisationen nicht in die Quere kommen).

Lebensmittel retten ist ein hervorragendes Beispiel, wie man der Wegwerfgesellschaft ein Schnippchen schlagen kann. Der Wegwerfprozess in der Lebensmittelherstellung fängt bereits in der Landwirtschaft an. Was nicht normgerecht aussieht, zu klein oder zu groß, zu braun oder zu grün oder gar mit Flecken übersäht ist, wird – obwohl genauso schmackhaft wie das Normgerechte – aussortiert und entsorgt. Bis zum Verkauf eines Lebensmittels gehen oft 50 Prozent in die Tonne. Könnten diese 50 Prozent verteilt werden, hätte der Landwirt mehr Freizeit – er arbeitet jetzt ja doppelt so viel, wie er eigentlich müsste – und die Lebensmittel könnten insgesamt günstiger werden, und zwar deutlich.

Der volkswirtschaftliche Wahnsinn der Wegwerfgesellschaft könnte ein Ende haben, gäbe es viel mehr Menschen wie Andrea Lewing (und natürlich auch die Lebensmittelretter vom Borsteler Tisch). Nach und nach entstehen Ideen, wie die Lebensmittel besser verteilt werden können. Lebensmittel, die Andrea Lewing nicht verteilen konnte, weil sie zu viel gerettet hat, bringt sie zum Beispiel zum Goldbekhaus. Dort gibt es, für jedermann und jede Frau zugänglich, einen Kühlschrank und einen vor Witterungseinflüsse geschützten Lebensmittelverschlag, bei dem sich jeder und jede kostenfrei und ohne Anmeldung bedienen kann.

Der Kontakt zu Älteren, sagt Andrea Lewing, der könnte noch ausgebaut werden. Denn gerade bei den Älteren gibt es viele mit geringem Einkommen. Wer also Bedarf hat, sich mit guten Lebensmitteln kostenfrei zu versorgen, kann sich gerne der WhatsApp-Gruppe von Andrea Lewing anschließen oder sie anrufen unter Telefon: 0160 411 8000. Kostet nichts, bringt viel und macht Sinn. Danke Andrea Lewing.

Uwe Schröder