HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN

Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung Hamburg-Grossborstel

Das deutsche Geistesleben hat mit einer Vielzahl von herausragenden Schriftstellern und Philosophen zwischen der ersten Hälfte des 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts eine einzigartige Blüte erreicht, die den Deutschen das Etikett eines „Volkes der Dichter und Denker“ einbrachte.

Dr. Ernst Schultze

Mit der zunehmenden Industrialisierung und der Zuwanderung in die Großstädte in der Gründerzeit 1866/71 änderten sich die Produktionsmöglichkeiten bei der Herstellung von Büchern und auch das Zielpublikum. Lesen war nicht mehr dem gehobenen Bildungsbürgertum vorbehalten. Immer mehr Menschen aus anderen Schichten konnten nicht nur dank verbesserter Schulbildung lesen – sie wollten es auch. Doch der Geschmack des neuen Lesepublikums aus sozial schwachen Schichten war mitunter ein anderer. Es entstand eine literarische Unterhaltungsindustrie mit den sogenannten Kolportage- und Hintertreppenromanen, später mit Serienromanen, die sich um den Inhalt ihrer Druckwerke wenig Gedanken machten, solange sie sich verkauften.

Der Borsteler Verlag arbeitete gegen die Verbreitung von Schundliteratur, wie z.B. der Zeitschrift „Der Orchideen-Garten“

Die sehr billig produzierten Kolportageromane waren Fortsetzungsromane mit vielen Einzelheften von wenigen Seiten. Sie wurden von Hausierern (Kolporteuren) vertrieben, die mit ihren Bauchläden durch die Städte oder über das Land zogen. Bevor er mit seinen Reiseromanen erfolgreich war, veröffentlichte zum Beispiel Karl May unter Pseudonym mehrere dicke Kolportageromane und war damit für seinen Verlag sehr erfolgreich.

Um 1900 wurden dann die Serienromane populär, meist als Groschenhefte produziert. Diese literarisch wenig anspruchsvollen, wirtschaftlich ausgesprochen erfolgreichen Romane, aber auch Publikationen mit sittlich verwerflichem oder politisch aufrührerischem Inhalt, wurden mit der Bezeichnung „Schundliteratur“ belegt – ein Begriff, den der Bibliothekar Dr. Ernst Schultze geprägt hatte.

Dr. Schultze stand zeitweise an der Spitze der Bewegung gegen die Schundliteratur, und er führte diesen Kampf von Groß Borstel aus.

Ernst Schultze wurde 1874 als Sohn eines Sanitätsrates in Berlin geboren. Nach dem Abitur 1892 studierte er Naturwissenschaften und Nationalökonomie, legte das Oberlehrerexamen ab und promovierte im Anschluss in Freiburg. Danach begann er eine Bibliothekslaufbahn, zunächst an der Königlichen Bibliothek in Berlin, dann an der Universitätsbibliothek Bonn. Im Jahr 1900 kam er nach Hamburg und war bis 1903 Leiter der Öffentlichen Bücherhallen. 1901 gründete er die Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung und wurde ihr Vorsitzender.

Dr. Ernst Schultze hatte seinen Wohnsitz am Rande von Hamburg, in der damaligen Groß Borsteler Violastraße 16, der heutigen Köppenstraße. So war es für ihn bequem, den Sitz der Stiftung nach Groß Borstel, in die Nähe seines Wohnortes zu legen. Die Geschäftsadresse der Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung lautete Woltersstraße 30/32.

Der selbst erteilte Auftrag der Stiftung war im weitesten Sinne die Volksbildung und im Besonderen der Kampf gegen die besagte Schundliteratur. Von der verderbenden Wirkung dieser Schundliteratur und von seinem Auftrag hatte Dr. Schultze präzise Vorstellungen: „Nur dann kann das Volk geistig gesund bleiben und weiter zur Höhe streben, wenn mit allen Mitteln dafür Sorge getragen wird, dass das Kind in der Schule, mehr noch das heranwachsende Menschenwesen, und endlich auch der Erwachsene möglichst nur solche Bücher in sich aufnehmen, aus denen wahrhafte Förderung in Geist und Gemüt überströmen.“ Diesem hohen Zwecke diente die Schundliteratur nicht: „Wer dauernd nur deshalb liest, um die Langeweile totzuschlagen oder um sich Nervenkitzel oder Sinnesaufregungen zu verschaffen, tut nicht nur sich selbst schaden, sondern handelt auch zum Nachteil der Gesamtheit, deren Glied er ist.“ Manche Eltern wären heute aber froh, wenn ihr Kind „nur deshalb liest, um die Langeweile totzuschlagen“.

Die sogenannten Volksbücher des Verlages
der Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung

Die Stiftung beschaffte günstig Bände mit hochwertiger Literatur, kaufte zum Beispiel Restauflagen auf und versorgte damit öffentliche Bibliotheken, besonders solche mit geringen Finanzmitteln in ländlichen Gebieten, aber auch Krankenhaus-, Gefängnis- und Schulbibliotheken. Die Bücher wurden an die Bibliotheken nicht ganz kostenlos, aber zu einem niedrigen Preis abgegeben. Den Volksbibliotheken auf dem Lande wurde eine feste Auswahl an Büchern im Paket angeboten, denn Dr. Schultze hielt die Bibliothekare vor Ort auf literarischem Gebiet nicht für kompetent genug, selbst eine geeignete Literaturauswahl zu treffen: „Wer unsere kleinen ländlichen Volksbibliotheken kennt, weiß, dass sie literarisch – wie dies ganz natürlich ist – ungefähr ein Menschenalter hinter denen der großen Städte zurück sind.“

Während des Ersten Weltkrieges spendete die Stiftung zudem unzählige Bücher an die Truppe, Lazarette und an deutsche Kriegsgefangene. Der Stiftung war ein eigener Verlag angeschlossen, der die urheberrechtsfreien Werke deutscher Dichter nachdruckte. Die Herstellung der Nachdrucke wurde zumeist über Darlehen finanziert. Im Laufe ihrer Geschichte gab die Stiftung 160 verschiedene Titel heraus, darunter Märchenbücher für die Jugend, Sammlungen von Balladen, Werke von Autoren wie Wilhem Busch, James Fenimore Cooper, Charles Dickens, Annette von Droste-Hülshoff, Marie von Ebner-Eschenbach, Joseph von Eichendorff, Theodor Fontane, Gustav Freytag, Johann Wolfgang von Goethe, Nikolaus Gogol, Franz Grillparzer, Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann, Heinrich von Kleist, Gottfried Keller, Selma Lagerlöff, Detlev von Liliencron, Conrad Ferdinand Meyer, dem Mundart-Dichter Fritz Reuter, Friederich Schiller, George Sand, Gustav Schwab, Theodor Storm, Leo Tolstoi oder auch dem Groß Borsteler Gustav Falke. Wer Bücher aus der Liste solcher Autoren liest, ist im Hinblick auf die Auswahl seiner Lektüre auf der sicheren Seite.

Mit seinem Erfolg entwickelte der Verlag zunehmend eine
nationalistische Ausrichtung.

Alles in allem verteilte die Stiftung im Laufe der Jahre an die vier Millionen Bücher. Ernst Schultzes Stiftung organisierte aber auch Leseabende, zum Beispiel an Schulen, und eine „Wanderausstellung gegen die Schundliteratur“. 1911 wurde die Ausstellung in 44 Städten gezeigt und erfreute sich eines großen Besucherandrangs.

Neben seiner Arbeit als Leiter der Stiftung verfasste Ernst Schultze wissenschaftliche Arbeiten zur Volksbildung und dem Volksbibliothekswesen, aber auch zu wirtschaftswissenschaftlichen Fragen. Daneben hielt er Vorträge. Vermutlich 1905 gründete er zudem noch einen eigenen Verlag, den Gutenberg-Verlag, der allerdings nur bis 1909 bestand.

Als Ernst Schultze die Stiftung 1901 ins Leben rief, stand ihm nur ein Startkapital von 1000 Mark zur Verfügung. Durch seine Arbeit für das Gemeinwohl fand er jedoch bald prominente Unterstützer, darunter nicht zuletzt Reichskanzler von Bülow. Im Laufe der Jahre gelang es, die Anzahl der zahlenden Mitglieder allmählich zu erhöhen. 1908 hatte die Stiftung etwa 9000 Mitglieder, die allerdings keinen hohen Jahresbeitrag zu leisten hatten. Die Mitgliedschaft kostete nur 2 Mark im Jahr.

1927 unterstützten die Sozialistische Arbeiterjugend und die SPD die Vernichtung von Schundliteratur – ein Vorläufer der Bücherverbrennung? Goldene Zeiten für die Satire. Die Zeitschrift „Lachen Links” thematisiert die moralischen Verklemmungen dieser Zeit.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs ließ die Unterstützung für die Stiftung allmählich nach, und auch die Interessen von Dr. Ernst Schultze verlagerten sich.

1917 meldete er sich zur Habilitation an der Philosophischen Fakultät in Leipzig an und erhielt 1918 die Lehrbefugnis (Venia Legendi) für Nationalökonomie und Sozialwissenschaften. Im gleichen Jahr gründete er an der Handelshochschule das Weltwirtschaftsinstitut. Von 1923 bis 1924 war Ernst Schultze zeitweise Rektor der Handelshochschule Leipzig.

Die Deutsche-Dichter-Gedächtnis-Stiftung leitete Ernst Schultze noch ehrenamtlich bis 1926. 1930 ging die Stiftung in Konkurs. Der Kampf gegen den „Schund“ fand in der Weimarer Republik schließlich in dem „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ von 1926 seinen juristischen Niederschlag.

André Schulz