„RETTET DAS KÜRZESTE WORT DER DEUTSCHE SPRACHE.“
Dem Redakteur ist bekanntlich nichts zu schwör, und so ist es in dieser zuweilen unterbezahlten Tätigkeit sehr oft die Suche nach Überflüssigem: nach textfettenden Füllwörtern oder gar zu langen Bandwurmsätzen. Der Redakteur sucht die Kürze. Spätestens seitdem der Journalistenlehrer Wolf Schneider (96) sein „Deutsch für Profis“ 1985 veröffentlichte (er hasste zum Beispiel aufgeblasene Wortungetüme: „Auf Dreimaster muss man schießen!“), ist man in deutschen Redaktionsstuben eifrig und immerfort bemüht, sich kurz und treffend auszudrücken. Am besten ist so zu schreiben, dass es jeder gleich kapiert. So wie alle den Text eines Feuermelders sofort verstehen: Scheibe einschlagen, Knopf drücken!
Dass es noch kürzer geht, offenbart uns ausgerechnet die Weihnachtszeit. Das verwundert, zeigt sich allerorten doch einiges an überflüssigem Tand: Wildmäandernde Lichterketten verschnörkeln den Blick auf Jugendstilfassaden und Vorgartenbäumchen. Weihnachtstannen ächzen unter Lametta und leiden unter geschmacksbefreitem LED-Gebammel aus dem Baumarkt.
Doch was ertönt da vom Chor aus der Kirche St. Peter im beschaulichen Hamburg-Groß Borstel? Ein kleines (tatsächlich großes), zartes, unschuldig-lieblich schönes O.
Ja, sie haben richtig gelesen. O ist das kürzeste Wort der deutschen Sprache. Es gibt kein kürzeres. Oder kennen Sie eines? Sagen Sie nichts. Verraten Sie nichts. Das Deutsche hat bekanntlich mehr als 1,8 Millionen Wörter. Nein, es gibt kein kürzeres, glauben Sie dem Redakteur – ausnahmsweise. Denn das O hat viel mit Glauben zu tun. Es kommt vor in der wunderschönen, ursprünglich übrigens sizilianischen Volksweise: O du fröhliche! Es heißt im Italienischen „O sanctissima“, was so viel bedeutet wie „O heiligste“ – gemeint ist eine gewisse Maria. Das Lied beginnt mit dem im Italienischen ebenfalls kürzesten und daher für uns hier im Deutschen leicht zu übersetzenden Wort: O.
Dieses Lied – o Wunder – faszinierte vor über 200 Jahren den Dichter Johann Gottfried Herder, der es auf seiner Italienreise entdeckte und ins damals noch kleinstaatlerische, aber umso kulturbesessenere Deutschland exportierte. Verschiedene Leute versuchten seinerzeit sogleich die wunderschöne italienische Melodie mit deutschen Sprachlauten zu vertonen. O du fröhliche! Die Fröhliche war plötzlich nicht mehr die fröhliche, liebliche, süße Jungfrau Maria („O sanctissima, o piissima, dulcis virgo Maria“), sondern ganz schlicht deutsch und sachlich: die Weihnachtszeit.
Zweihundert Jahre lang konnte das gute Wort O so in seiner gebotenen Reinheit erhalten bleiben. Doch nun wird es durch die Rechtsschreibreform bedroht. Und zwar bedroht durch ein winzig kleines, nachgehauchtes „h“. Oh, ähem, ich meinte natürlich O! Ausgerechnet die Dudenredaktion gibt das reine Wörtchen O der Beliebigkeit preis und damit den Sprachpiraten zum Abschuss frei. Es stellt stilunsicheren Schreibern in gelben Nachschlagewerken frei, wahlweise das blasse „Oh“ zu verwenden. Beides – O oder Oh – sei angeblich nicht zu beanstanden. O-ha! Es bleibt hoffentlich noch lange Zeit beim wunderbar alleinstehenden, unschuldigen O, natürlich auch in den anderen Liedern meist kirchlicher Herkunft, die mit O beginnen oder in denen ein O vorkommt: „O Tannenbaum“; „O Heiland, reiß die Himmel auf!“ Und sprachakrobatisch auch nicht zu unterschätzen: „Gottes Sohn, o wie lacht!“
Wir möchten den besinnungsfroh dahin[1]stolpernden Sprachmerkwürdigkeiten nicht noch ein lächerlich überflüssiges, bei gehauchtes und dann auch noch klein-geduckt am Stock daherkommendes „h“ zufügen. Wir achten strikt auf Reinheit. Wir lassen es naturbelassen. Und so tönt es in Groß Borstel weiterhin nicht heiser und gebückt, sondern glockenklar und groß: das schöne Wort O.