Verdorfung
Wie Gross Borstel wohnen will

Blättert man in Wikipedia, wird man unter dem Stichwort Verdorfung leicht in die Irre geleitet, und zwar ins Hochmittelalter. Dort bildeten sich vermehrt aus Kleinsiedlungen Dörfer – ein Prozess, den man heute ebenfalls beobachten kann und der auch Verdorfung genannt wird.

Nein, Verdorfung ist ein seit einigen Jahrzehnten zudem ein Begriff, der in der Stadtsoziologie diskutiert wird, und der meint verwirrenderweise das Gegenteil. Die Bürger suchen in urbanen Quartieren nach einer dörflichen Identität. Die „Stadt der 15 Minuten“, ein Begriff, den die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo in die Diskussion warf, hat schließlich den stadtsoziologischen Begriff „Verdorfung“ aus seiner wissenschaftlich verschlafenen Ecke hervorgeholt. Und er wird nun eifrig aufgegriffen, besonders, wenn es um die Wiederbelebung von Stadtteilen geht.

Hamburg hat bekanntlich ein Wohnungsbauprogramm, das den Bau von 10.000 Wohnungen jährlich vorsieht. Wenn wir uns umschauen, auch hier in Groß Borstel, dann sehen wir die Auswirkungen. Das Tarpenbeker Ufer ist fertiggebaut und nahezu vollständig bezogen worden. 940 Wohnungen mit über 2.000 Einwohner vergrößern schon einmal das verschlafene Groß Borstel um 25 Prozent. Kommt dann noch Petersen Park (zwischen Papenreye und Niendorfer Weg) hinzu mit seinen 420 Wohnungen und schätzungsweise 900 Neuborstelern, dann beträgt der Bevölkerungszuwachs zusammen mit kleineren Bauprojekten über 40 Prozent.

Schön, dass alle eine Wohnung gefunden haben. Aber welche Erwartungen haben sie an den neuen Stadtteil? Und wie sieht es aus mit der Identität der neuen und der alten Groß Borsteler? Wollen alle wirklich in einer Schlafstadt wohnen, ausschließlich um dort zu schlafen? Und fahren Sie dann zum Einkaufen, zur Arbeit und zu Freizeitaktivitäten schnell wieder weg? Wir kennen das aus den Bausünden der des vergangenen Jahrhunderts: Steilshoop, Osdorfer Born, Mümmelmannsberg.

Nein, der typische Groß Borsteler und natürlich auch die typische Groß Borstelerin versuchen möglichst viel im Stadtteil zu erledigen. Bloß nicht ins Auto, lieber etwas für die Bewegung tun. Mit dem Kind mal gemütlich zum Markt am Donnerstag schlendern, natürlich auch zum Borstelbäcker (Borsteler Backshop) oder zu Budni. Sport im SV Groß Borstel gleich um die Ecke und bei Fytt oder Medalife – allein oder in der Gruppe. Corona lassen wir bei diesen theoretischen Betrachtungen mal außer Acht. Obwohl, wer mag schon gerne in den gedrängelt vollen Fünfer-Bus steigen, nur „um in die Stadt zu fahren“?

Viele sprechen vom Dorf, wenn sie Groß Borstel meinen. Insgeheim haben die Groß Borsteler den Begriff Verdorfung schon lange internalisiert. Denn eines ist den Groß Borstelern wichtig: möglichst viel im Dorf zu erledigen. Wenngleich man auch gerne mitten in der Stadt wohnt, die Annehmlichkeiten der Stadt auch nutzt: Theater, Kino, Konzerte. Gelegentlich.

Lothar Schubert von DC Developments (DC = Dahler & Company, Maklerunternehmen) hat dazu 10.000 Menschen in der gesamten Bundesrepublik befragen lassen, was genau sie in der Stadt sich wünschen bzw. was ihnen in ihrem Lebensumfeld wichtig ist. Ergebnis: „Die 15-Minuten-Stadt wird zur Basis der Urbanität. Faktoren wie Naturerlebnisse, nachbarschaftlicher Zusammenhalt und Fußläufigkeit werden immer wichtiger für Städte und sind es auch für uns Quartiersentwickler. All diese Eigenschaften werden Dörfern selbstverständlich zugeschrieben.“ (Abendblatt)

Die Urbanisierung von morgen, so die Autoren der Dahler-Studie, wird ohne die Verdorfung von Stadtbereichen nicht auskommen. 41,6 % meinten, ihnen sei im Stadtteil das „Gemeinschaftsgefühl“ beziehungsweise die „Vernetzung“ wichtig, gefolgt von „Bewohner verschiedener Altersklassen“ (38,8 %) und „Kinderfreundlichkeit“ (34,2 %).

Die Menschen möchten nicht mehr anonym leben, gerade auch in Zeiten der Pandemie. Sie haben ein Interesse an ihrer Nachbarschaft und wollen sich beteiligen. Der Kommunalverein beobachtet das schon lange. Unsere Stadtteilfeste mit vielen tausend Besuchern konnten die meisten Neu-Groß-Borsteler wegen der Pandemie noch nicht kennenlernen, aber auch unser Sommerfest und der Adventsmarkt im letzten Jahr zeigten Beispiele für Begegnungsmöglichkeiten, die wir im Stadtteil brauchen, und die seit geraumer Zeit immer deutlicher artikuliert werden.

Begegnungsmöglichkeiten sollten dabei nicht nur beim Einkauf gegeben sein, es müssen auch barrierefreie und unkommerzielle Orte und Plätze der zufälligen Begegnung geschaffen oder wiederbelebt werden. Die rege Diskussion um den Platz vor dem Sportverein zeigt, die Groß Borsteler wollen die Vernetzung in der Nachbarschaft, sie brauchen die stressfreie Begegnung, sie sind aufgeschlossen und wollen die Diskussion um die Lebensqualität im Quartier.

Deswegen ist eine sorgfältige Bürgerbeteiligung so wichtig. Wenn wir es versäumen, Orte der Begegnung so zu gestalten, wie die Bürger es wünschen, wenn wir in Fragen des Stadtteilkulturzentrums (Stavenhagenhaus) zu schmalspurig denken, wenn wir die Borsteler Chaussee nicht nachhaltig für Fußgänger verändern, dann werden wir jahrzehntelang auf die Fußgängerquartiere von „Superbüttel“ (Eimsbüttel) oder „Ottensen macht Platz“ neidisch schielen.

Bürgerbeteiligung muss von allen ausgehen, möglichst viele umfassen und ein möglichst repräsentatives Abbild schaffen. Es ist gut, dass wir die beiden Quartiersentwickler von der „steg“ im Boot haben, Ingrid Schneider und Jan Krimson. Aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass sie uns die Arbeit abnehmen. Wir müssen ihnen sagen, wohin die Entwicklung gehen soll. Deswegen: Verdorfung ist schön und gut. Unser Dorf soll ja auch schöner werden. Bringt also eure Ideen ein. Sagt sie, schreibt sie den Quartiersentwicklern. Und bitte: Beteiligt euch im Stadtteilbeirat und bei den Diskussionsveranstaltungen, wenn es um die konkreten Einzelprojekte geht.

Text: Uwe Schröder