Vögel in Groß Borstel
Der Grünspecht
Seit März ist dieser unverkennbare Ruf über Groß Borstel zu hören. Er klingt wie ein lautes Lachen, das aus bis zu zwanzig Wiederholungen besteht, die gegen Ende etwas schneller, leiser werden und in der Tonhöhe etwas abfallen: „Kjü-kjü-kjü-kjü-kjü-kjü-kjü-kjü…“ Mit diesem markanten Reviergesang macht der Grünspecht (Picus viridis), auch Grasspecht oder Erdspecht genannt, auf sich aufmerksam. In der Familie der Spechte (Picidae) sind Grünspecht und Grauspecht in Mitteleuropa die einzigen Vertreter der Gattung Picus. Das lateinische Wort „viridis“ bedeutet „grünlich“.
Grünspechte trommeln deutlich seltener als die anderen heimischen Spechte und nur mit leisen unregelmäßigen Wirbeln. Sie sind bis zu 32 cm lang, haben eine Flügelspannweite bis zu 52 cm und ein Gewicht zwischen 140 und 200 Gramm. Ihre Oberseite ist moosgrün, die Unterseite blassgrün und der Bürzel grüngelb gefärbt. Um die weißen Augen herum weist der Vogel eine schwarze Gesichtsmaske auf, die ihm im Volksmund den Namen „Fliegender Zorro“ eingebracht hat. Die Kopfoberseite ist bis in den Nacken rot, Wangen, Hals und Kehle sind eher weißlich. Die Flügel präsentieren sich wie die Oberseite moosgrün, sind am Rand aber schmal gebändert. Unter den schwarzen Augenumrandungen liegt je ein schwarzer Wangenstreifen, der eine gute Unterscheidung der Geschlechter ermöglicht: Während beim Weibchen diese beiden Wangenstreifen schwarz sind, weisen sie beim Männchen einen zentralen roten Fleck auf. Im Jugendkleid ist das Gefieder deutlich schwärzlich gestrichelt und gefleckt.
Der im nordwestlichen Mitteleuropa nicht vorkommende Grauspecht unterscheidet sich vom Grünspecht deutlich durch seinen grauen Kopf, die nicht vorhandene Maske und einen recht kleinen roten Stirnfleck.
Grünspechte sind in nahezu ganz Europa und Vorderasien verbreitet. Sie bevorzugen halboffene Landschaften, vor allem Waldränder, Streuobstwiesen, Parks und große Gärten mit Baumbestand. In ausgedehnten Waldgebieten, vorzugsweise Laubwäldern, mögen sie offene Stellen wie Waldwiesen oder große Lichtungen. Dabei sind die Vögel standorttreu. Lediglich im Winter streichen sie auf der Suche nach Nahrung umher und erscheinen dabei auch in unseren Gärten.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren Grünspechte noch die häufigste Spechtart in Hamburg, heute nimmt diesen Platz der Buntspecht ein. Während der 1980er Jahre betrug der Bestand hier nur circa 40-50 Grünspecht-Brutpaare. Mittlerweile konnte er sich auf zurzeit circa 130 Brutpaare erholen. Dabei liegen die Verbreitungsschwerpunkte vor allem im Norden und Westen Hamburgs, aber auch im Bereich Bergedorf ohne die Vier- und Marschlande.
Grünspechte sind tagaktiv. Sie bewegen sich häufiger und auch geschickter als andere Spechtarten am Boden, wovon die Bezeichnungen „Erdspecht“ und „Grasspecht“ zeugen. Die Vögel überwinden in kleinen Sprüngen meterlange Strecken ohne zu fliegen. Ihre Nahrung suchen sie hauptsächlich am Boden und sind unter allen Spechtarten die am meisten auf erdbewohnende Ameisen spezialisierte Art. Deshalb fliegen sie in den frühen Morgenstunden zu Weiden und Wiesen, um dort mit ihren Schnäbeln tiefe Löcher in das Erdreich zu bohren und mit ihrer 10 cm langen Zunge, an deren verhornter Spitze sich Widerhaken befinden, Ameisen zu erbeuten. Im Winter graben Grünspechte mit dem Schnabel Löcher in den Schnee, um an darunter liegende Ameisenhügel zu gelangen. Neben Ameisen stehen auch Fliegen, Mücken und Spinnen – seltener Würmer, Beeren oder Obst – auf dem Speiseplan
Noch vor Beendigung des ersten Lebensjahres erreichen Grünspechte ihre Geschlechtsreife. Erste Kontaktrufe sind schon ab Dezember zu hören, wobei die Paarbildung und Festlegung der Reviergrenzen in unseren Breiten erst ab Mitte März bis Anfang April erfolgt. Da ihr Schnabel im Vergleich zu anderen Spechtarten nicht so kräftig und daher weniger zum Hämmern geeignet ist, nutzen Grünspechte gerne bereits vorhandene Höhlen anderer Spechte. Nur wenn diese Suche nicht erfolgreich ist, zimmern sie selbst eine Bruthöhle, vorzugsweise in weichem Holz kranker Baumstämme. Diese etwa drei Wochen dauernde Arbeit verrichtet hauptsächlich das Männchen. Das fertige Werk ist circa 50 cm tief und hat ein leicht ovales Einflugloch mit einer Größe von ungefähr sechs mal sieben Zentimetern.
Zwischen Anfang April und Mitte Mai legt das Weibchen fünf bis acht weiße Eier, die etwa zwei Wochen lang abwechselnd von beiden Partnern bebrütet werden. Die Jungvögel sind Nesthocker, brauchen vom Schlüpfen bis zur Selbstständigkeit 23 bis 27 Tage und werden in dieser Zeit von den Eltern versorgt. Auch nach dem Ausfliegen unterstützen die „Erziehungsberechtigten“ die Jungspechte noch bis zu sieben Wochen bei der Nahrungssuche. Wenn die ersten Jungen nicht überlebt haben, können sich bis zu zwei Nachbruten in anderen Höhlen anschließen. Grünspechtpaare bleiben in der Regel nur eine Saison zusammen, mehrjährige Beziehungen sind jedoch nicht ausgeschlossen.
Auch der Grünspecht hat Feinde. Noch vor den natürlichen Feinden wie Unwetter, Parasiten, Wiesel, Baummarder, Wanderfalke, Waldkauz und Uhu steht – wie so oft – an erster Stelle der Mensch, der den Lebensraum des Grünspechts zerstört und vergiftet. So hat die weiträumige Umwandlung von Grünland in Ackerland und der damit verbundene verstärkte Einsatz von Bioziden zu einem bedeutenden Rückgang des Vorkommens an Wiesenameisen geführt, einer wesentlichen Nahrungsquelle der Grünspechte. Auch lange, harte Winter führten stets zu erheblichen Bestandsrückgängen. Trotzdem wird das Tier aufgrund der aktuellen Situation noch nicht als gefährdet eingestuft, steht aber in Deutschland und in den Niederlanden auf der Vorwarnliste der Roten Liste gefährdeter Arten.
Der Naturschutzbund Deutschland hatte den Grünspecht 2014 zum „Vogel des Jahres“ gewählt. Diese Wahl diente stellvertretend auch für den Lebensraum Obstwiese, auf dessen Gefährdung damit hingewiesen werden sollte.
Versuche, den Vögeln durch das Aufhängen geräumiger Vollhöhlennistkästen zu helfen, schlugen leider häufig fehl, weil diese in der Regel nicht angenommen wurden.
In der menschlichen Kulturgeschichte spielen Grünspechte nur eine geringe Rolle, denn sie waren weder als Schädlinge noch als Nützlinge von Bedeutung. Gemeinsam mit dem Schwarzspecht wurden sie als „Regenvogel“ bezeichnet, da ihre ersten Kontaktrufe nach dem Jahreswechsel zeitlich zusammenfielen mit dem Eintreffen der ersten Warmfronten und ihren ergiebigen Regenfällen.
Als „Grünspecht“ oder vor allem „Grünschnabel“ bezeichnet der Volksmund halbwüchsige, vorlaute Besserwisser. Seit dem 18. Jahrhundert wurden Förster sowie seit dem 20. Jahrhundert auch Polizeibeamte gerne „Grünspechte“ genannt. In Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ muss sich der junge Protagonist Heinrich Lee aufgrund seiner Unerfahrenheit – aber auch im Zusammenhang mit seinem im Romantitel enthaltenen Spitznamen – folgendes gefallen lassen: „Heda Grünspecht! Wo hinaus?“
Ansonsten taucht der Grünspecht selten in der Literatur recht auf. Die älteste bekannte Erwähnung stammt aus dem Werk „Die Vögel“ des griechischen Komödiendichters Aristophanes (zwischen 450 und 444 bis 380 v. Chr.):
„Tust Du nach meinem Gebot und folgst mir, o göttlicher Jüngling,
Wirst Du ein Aar in den Wolken! Doch wenn Du die Gabe verweigerst,
Wirst Du nicht Fink und nicht Spatz, nicht Adler noch Falke, noch Grünspecht“
Erwähnung findet der Grünspecht auch in der Sage „Die Springwurzel“ aus der Sammlung der Gebrüder Grimm, in der Erzählung „Die Bernsteinhexe“ des Schriftstellers Wilhelm Meinhold (1797 bis 1851) und in dem Gedicht „Die Einsiedelei“ des Schweizer Dichters Johann Gaudenz von Salis-Seewis (1762 bis 1834):
„Nichts unterbricht das Schweigen
Der Wildnis weit und breit,
Als wenn auf dürren Zweigen
Ein Grünspecht hackt und schreit,
Ein Rab` auf hoher Spitze
Bemooster Tannen krächzt,
Und in der Felsenritze
Ein Ringeltäubchen ächzt.“
Der Schriftsteller Jean Paul (1763 bis 1825) schrieb in seinem Roman „Dr. Katzenbergers Badereise“:
„Da ich mich schämte wegen meiner Blöße, so wurde ich nicht rot, sondern sogenannt preußisch Grün, wie ein Grünspecht.“
Und seit 1999 findet der Grünspecht sogar in der Astronomie Beachtung, indem der „Asteroid (8774) Viridis“ nach Picus viridis benannt wurde.
Was für eine Karriere!
Text und Fotos: Michael Rudolph