Vögel in Groß Borstel
Der Stieglitz
Mit seiner unverwechselbaren schwarz-roten Gesichtsmaske und seinem farbfrohen Gefieder gehört er hierzulande zu den buntesten Singvögeln: Der auch Distelfink genannte Stieglitz (Carduelis carduelis). Der Lebensraum des zur Familie der Finken gehörenden Vogels erstreckt sich von Westeuropa bis nach Zentralasien und Nordafrika. In Hamburg liegt sein Brutschwerpunkt im Elbtal und im dörflichen Umfeld. Dabei fällt seit etwa 20 Jahren die Tendenz zur Einwanderung in die hanseatische Gartenstadt auf – einhergehend mit einer deutlichen Bestandszunahme. In Deutschland leben circa 520.000, in Hamburg knapp 1000 Brutpaare. Der Bestand gilt als nicht gefährdet. In Groß Borstel ist der Stieglitz vor allem in Flughafennähe zu beobachten, obwohl hier noch keine Brutvorkommen bekannt sind.
Stieglitze zeichnen sich durch schlanke Gestalt, kurzen Hals und dünne Füße aus. Mit einer Körperlänge von 12 bis 13 cm sind sie etwas kleiner als Haussperlinge („Spatzen“). Neben der schwarz-roten Gesichtsmaske beeindrucken besonders die weißen Wangen und die breiten leuchtend gelben Binden auf den schwarzen Flügeln. Der Rücken ist hellbraun, Bauch und Bürzel weiß. Der am Ende leicht gegabelte Schwanz zeigt sich schwarz mit weißen Flecken nahe der Spitze. Männchen und Weibchen unterscheiden sich nur geringfügig voneinander: Die etwas dunklere Gesichtsmaske des Männchens reicht bis an das hintere Augenende, die des Weibchens hingegen nur knapp bis zur Augenmitte. Jungvögel zeigen gar keine Rotfärbung am hellgrau gestreiften Kopf.
Der Stieglitz ist ein in Westeuropa überwinternder Teilzieher und in wärmeren Regionen ein Standvogel. Brutplätze befinden sich möglichst hoch in Laub- und Nadelbäumen, wobei der Vogel in Hamburg das direkte Umfeld dörflicher Gärten und alte Obstbaumbestände bevorzugt. Es gibt aber auch Brutvorkommen in Grünanlagen und Gärten mit immergrünen Sträuchern und Bäumen.
Außerdem ist der Stieglitz in unseren Breiten nicht nur Ganzjahresvogel sondern auch Ganzjahressänger. Der namensgebende Kontaktruf „stieglitt“, der auch den perlenden Gesang einleitet, verstummt lediglich während der Mauser.
Stieglitze ernähren sich von Samen aller Art. Dabei schätzen die Vögel Kratzdisteln, Karden und andere Korbblütler besonders. Sie vollführen die unterschiedlichsten Bewegungen um an die Samen zu gelangen und pflücken diese mit nach unten hängendem Rücken oder mit seitlich oder sogar nach unten hängendem Kopf.
Ihre Geschlechtsreife erreichen Stieglitze bereits gegen Ende des ersten Lebensjahres und führen eine monogame Brutsaisonehe. Die Balz wird meist durch das Weibchen eingeleitet, indem es sich mit pendelndem Körper und Schnabelsenken dem Männchen nähert. Das Männchen lässt seinen Gesang ertönen, pendelt mit dem Körper und füttert das Weibchen. Darauf folgt die mehrmals am Tag stattfindende Kopulation. Nachdem das Weibchen in Begleitung des Männchens mehrere mögliche Nistplätze begutachtet hat, baut es sorgfältig in Baumkronen oder hohen Sträuchern das kleine napfförmige Nest aus Halmen sowie Stängeln. Dieses polstert es mit Moos, Flechten und pflanzlicher Wolle aus. Die oftmals zwei Jahresbruten erfolgen im April und Juli. Dabei besteht das Gelege jeweils aus vier bis sechs weißen Eiern, die mit roten und braunen Flecken versehen sind. Während der 12- bis 14tägigen Brutzeit verteidigt das Männchen den Brutbaum gegen Artgenossen und versorgt das allein brütende Weibchen mit Nahrung.
Die blind und nackt geschlüpften Jungvögel werden in den ersten sechs Tagen vom Weibchen gehudert und aus dem Kropf mit der Nahrung gefüttert, die das Männchen täglich heranschafft. Nach dem fünften Tag öffnen die Jungen ihre Augen und betteln die Elterntiere jetzt gezielt an. Etwa ab dem zwölften Lebenstag können sie bei Gefahr das Nest verlassen. Nach dem Ausfliegen sitzen die Jungtiere im Geäst und werden dort von den Altvögeln hauptsächlich mit Distelsamen versorgt. Gleichzeitig beginnt das Weibchen ein neues Nest für die zweite Brut zu bauen. Nach 28 bis 30 Tagen sind die Jungen selbständig.
Die lateinische Bezeichnung Carduelis ist abgeleitet von dem Wort „carduus“, auf deutsch „Distel“. Die Bezeichnung „Distelfink“ (mittelhochdeutsch „distelvinke“, „distelvinkelin“) hat wie der lateinische Name seinen Ursprung in den Distelsamen, die der Vogel – wie schon erwähnt – als Nahrung bevorzugt.
Im Mittelalter verwendete man den Stieglitz als Talisman zum Schutz vor der Pest und als Heilmittel gegen andere Krankheiten. So sollten gebratene Stieglitze gegen Bauchschmerzen und Darmbeschwerden wahre Wunder wirken.
Der Vogel, der ein Symbol für Ausdauer, Fruchtbarkeit und Beharrlichkeit ist, stellt wegen seiner Vorliebe für Disteln und der Rotfärbung seines Kopfes auch ein Symbol für den Leidensweg Christi dar. So findet sich der Stieglitz auf vielen Gemälden des Mittelalters und der Neuzeit. Häufig wurde er auch in Bildern der Madonna mit dem Jesuskind oder der heiligen Familie gemalt. Oft hält dabei das Jesuskind einen Stieglitz in der Hand, zum Beispiel in dem Gemälde „Madonna mit dem Stieglitz“, gemalt 1506/07 von Raffael Santi. Außer der Taube als Symbol des Friedens und des Heiligen Geistes wurde wohl kein anderer Vogel in der Malerei so häufig dargestellt.
Das Gemälde „Der Distelfink“ von Carel Fabritius ist Namensgeber und Gegenstand der Handlung des Romans „Der Distelfink“ (The Goldfinch), geschrieben von der Amerikanerin Donna Tartt.
In Bayern war für den Stieglitz auch der Beiname „Zusammscharicht“ gebräuchlich. Der Naturwissenschaftler und Theologe Andreas Johannes Jäckel erklärt diesen Beinamen, indem er eine Fabel zitiert: „Als der Schöpfer sämtliche Vögel, die er geschaffen, mit Farben schön bemalt hatte, und nur noch der Stieglitz eines Schmuckes wartete, scharrte Gott die noch vorhandenen Farbreste auf der Palette zusammen und malte sein buntscheckiges Kleid.“
Wegen seiner Stimme und seines farbfrohen Gefieders wurde der Distelfink bis in das 20. Jahrhundert häufig als Käfig- und Volierenvogel gehalten. Dabei zeigte sich, dass Stieglitzmännchen sich gerne mit Kanarienvogelweibchen paaren, was allein den Begierden des Weibchens zugeschrieben wurde…
Merk auf wie lockt so lieblich mit, der schöne Distelfink,
Beißt Distel auf und sticht sich nit, sein Witz ist nicht gering,
Gar wohl ist er gezieret, schön gelb und roth bekleidt,
Sein Stimm er nie verlieret, singt fröhlich alle Zeit .
(Aus: „Des Knaben Wunderhorn“, 1806)
Text und Fotos: Michael Rudolph