Mein kleiner Lokalpatriot
Eine Kurzgeschichte von Stanley Kankel
Nennt mich verrückt, es ist mir egal. Auf meiner Schulter sitzt und lebt ein kleines Wesen. Dieses Wesen beobachtet sehr gerne, redet sehr viel und kommentiert das Beobachtete sehr gerne und viel. Außerdem ist es sehr verbunden mit seiner und meiner Heimat. Darum nenne ich es auch meinen kleinen Lokalpatrioten. Seine Lieblingsbeschäftigung ist es, auf meiner Schulter zu sitzen, seine gewohnte Umgebung zu betrachten und über sie zu philosophieren. Über die Schönheit der Natur, die Freundlichkeit der Menschen, die hier leben und seiner Verbundenheit zu all den wunderbaren Eigenschaften, die diesen Ort noch ausmachen. Er spricht mit mir über die, mit Laubbäumen gesäumten Straßen und Flüsse. Er erwähnt die Weite der Kleingärten und wie schön sie zu betrachten ist, mit all ihren verschiedenen Bepflanzungen und ihren ganz individuellen Gartenlauben. Er kommentiert die Natürlichkeit des Moores, in dem mich jeden Sommer die Mücken auffressen, auch wenn das für meinen kleinen Lokalpatrioten nur ein Beweis für die Natürlichkeit dieser Landschaft ist. Ihm fällt immer wieder ein neuer Aspekt ein, den er für erwähnenswert hält. Nur neuerdings ist er besonders still.
Dabei wundere ich mich für gewöhnlich immer, dass meinem Schulterwesen nie der Gesprächsstoff ausgeht. Denn seine Heimat besteht eigentlich nur aus einem Stadtteil, wobei ich ihn mit dem Wort „nur“ ein Stadtteil, immer auf die Füße trete. Denn dieser eine Stadtteil ist sein ganzer Stolz. Und was ist dann Hamburg? Hamburg ist seine ganze Welt. Wenn ich Hamburg mal verlasse, verhält er sich in einer deprimierten Art und Weise, als hätte ich ihn mit einem Raumschiff zum Mond geschickt. Aber sobald er die Stadtgrenze wieder übertritt, redet er so viel wie vorher. Dabei kommt ihm bereits Hamburg Mitte so vor, wie ein anderer Kontinent, mit einer ganz anderen Kultur und Lebensweise. Als ich mit meiner Schulklasse einmal nach Bergedorf gefahren bin, unterstellte er mir sogar, zum Südpol gereist zu sein. Zufrieden ist er meistens erst in Eimsbüttel oder Hamburg Nord. Das ist sein Heimatkontinent. Aber am glücklichsten ist er natürlich wieder in seinem Stadtteil. Seiner kleinen Heimat. Seiner kleinen Welt. Eine Welt, so klein wie die eines Kindes. Ein Kind das jetzt schweigt.
Wenn ich bei einem Spaziergang sein zuhause verlasse, fragt er mich gleich, warum wir nicht in der gewohnten Umgebung bleiben. Ich versuche ihn dabei immer zu ein wenig mehr Offenheit zu ermutigen, aber er lehnt jede neue Umgebung konsequent ab. Betrete ich Niendorf, beschwert er sich gleich darüber, dass dort zu viel Asphalt und zu wenig Natur wäre. Meine Anmerkung zum Niendorfer Gehege, schüttelt er jedes Mal damit ab, dass ein einfacher Wald, nichts gegen das größte innerstädtische Moor Europas wäre. Begehe ich Lokstedt, merkt er an, dass hier viel zu voll wäre. Viel zu viele Menschen. Bei Eppendorf das Gleiche. Allein schon wegen den U-Bahnen beschwert er sich über den übermäßigen Transit. In seinem Stadtteil hätte es das nicht gegeben. Ich dachte früher, dass ihm dann immerhin Alsterdorf gefallen würde, da er ein so großer Liebhaber der Tarpenbek ist, aber nein. Dieser Stadtteil wäre nicht bezahlbar zum Wohnen und es stünden nur Villen an den Alsterauswüchsen, die das Auseinanderdriften der Gesellschaftsschichten verdeutlichen würden. Dann bin ich doch immer überrascht, was für Sätze aus seinem sonst recht kindlichen Wortschatz herauspurzeln, wenn es um das trotzige Ablehnen neuer Eindrücke geht. Am schlimmsten ist aber Fuhlsbüttel. Nach meinem kleinen Lokalpatrioten bestünde Fuhlsbüttel nur aus einem Flughafen und ein Flughafen dürfe sich nicht Stadtteil nennen. Man solle sowas wie einen Flughafen sowieso aus Karten radieren, wie man es mit der Außenalster in St. Georg oder Rotherbaum tut. Ich weiß nicht, wie häufig ich jetzt schon mit ihm über die Existenz von Fuhlsbüttel diskutiert habe. Ich weiß dann manchmal nicht, was ich noch mit ihm anfangen soll. Schlussendlich muss ich sowieso wieder zurückspazieren. Zurück in unseren Stadtteil. Zurück in die gewohnte Umgebung. Aber momentan ist er sogar hier deprimiert.
Immerhin quatscht er mich sonst auf den Rundgängen durch Hamburg nicht die ganze Zeit damit voll. Häufig reden wir darüber, was mein kleiner Lokalpatriot auf den Schultern anderer Fußgänger, Passanten und Reisenden sieht. Denn jeder hat einen kleinen Lokalpatrioten, der auf seiner Schulter lebt und ihnen sagt, wie schön es ist zuhause zu sein. Manchmal unterhält er sich sogar mit den Schulterwesen anderer Menschen. Kommen sie aus seinem Stadtteil, freut er sich immer darüber, aber auch wenn ihm jemand aus Wandsbek, Harburg oder Altona begegnet, unterhält er sich aufgeregt mit ihnen. Nur wenn uns jemand von außerhalb Hamburgs begegnet, verlieren beide kein Wort. Dabei nicken sie sich freundlich zu, als würden sie sagen wollen: „Ich verstehe dich“. Aber keiner spricht. Als ich ihn mal darauf angesprochen habe, erklärte er mir, dass er ihre Sprache nicht verstehen würde. Ich habe mich immer darüber gewundert, aber mein kleiner Lokalpatriot kann mit Nordfriesisch oder Sächsisch genauso wenig anfangen, wie mit Portugiesisch oder Mandarin. Trotzdem nicken sie sich zu, weil beide wissen, woher sie auch kommen, beide haben eine genauso große Verbundenheit zu ihrer Heimat. Das ihr Lebensinhalt. Und darin verstehen sie sich. Das eint sie. Ich habe ihn auch mal gefragt ob andere Menschen ihre Lokalpatrioten auch sehen würden oder ob ich der Einzige wäre, der mit seiner Schulter spricht. Er antwortete mir aber, dass das nur Wenige tun würden. Viele Menschen seien blind. Warum? Weil Viele sich an die Wesen auf ihren Schultern gewöhnt haben und dabei lernten die Menschen sie auszublenden. Die kleinen Lokalpatrioten waren schon immer da und sie sind es auch immer geblieben. Selbst wenn man seine Heimat einmal verlassen hat, würde man irgendwann wieder zurückkehren können. Man selbst kann gehen, das Zuhause nicht. Es bleibt. Oder es ist nie wieder so wie es war.
Ich habe mich lange an der Begleitung meiner Spaziergänge erfreut, aber vor kurzem hat sich etwas geändert. Eine Änderung, die mich besorgt. Mein kleiner Lokalpatriot schweigt. Er schweigt und sitzt in die Leere starrend auf meiner Schulter. Was ist los? Aber er streckt nur seinen Finger aus. Er zeigt auf eine Frau, die an uns vorbei geht. Was ist mit der Frau? „Auf ihrer Schulter sitzt kein Ich.“ erklärt er. Was? Eigentlich sitzt auf jedem Schulterpaar ein kleiner Lokalpatriot. „Aber hier nicht. Und bei dem Mann der dort um eine Ecke biegt, auch nicht. Ich sehe sie überall.“ sagt er, „Letztens ist mir das das erste Mal aufgefallen. Und jetzt überall. Ich weiß nicht, wo sie hin sind.“ Wer? „Die anderen Wesen, sie müssen von ihren Schultern gefallen sein.“ Wie? „Sie hatten keine Kraft mehr, sich halten zu können. Und dann sind sie einfach gefallen.“ Gefallen? „Gefallen. Es macht mir Angst, denn ich weiß nicht warum. Warum hatten sie keine Kraft mehr?“ Vielleicht hat sie etwas zu sehr schockiert? „Was denn?“ Vielleicht wurde ihre Heimat zerstört? Schweigen. „Wie soll man denn eine Heimat zerstören?“ Durch Katastrophen oder Krieg. „Was ist das?“ Ich überlege. Wie erkläre ich das? Erinnerst du dich noch als die Tarpenbek und das Moor fast vollkommen ausgetrocknet waren? „Ja.“ Stell dir vor das wäre ein Dauerzustand. „Aber dann würden ja alle Pflanzen verdursten!“ Und alles sähe nicht mehr so aus wie es war. „Aber… das ist ja schlimm!“ Oder erinnerst du dich noch, als die Kleingartenlaube abgebrannt ist? „Ja!“ Stell dir vor das würde mit allen Kleingartenlauben passieren. „Alles verbrannt…“ Und alles sähe nicht mehr so aus wie es war. Schweigen. Stell dir deinen Stadtteil vor. Stell dir Eimsbüttel vor. Stell dir Hamburg vor. Ohne Flüsse. Ohne Bäume. Ohne Häuser. Ohne Leben. „Und alles sähe nicht mehr so aus wie es war. Aber… aber dann…“ Er schweigt kurz. „Dann hätte ich auch keine Kraft mehr, mich auf deiner Schulter zu halten. Ich würde fallen.“ Und die ganze Welt sähe nicht mehr so aus, wie sie war. Ohne einen kleinen Lokalpatrioten. Ohne ein Zuhause.