Der Kamerabaum

Reiseeindrücke von Stanley Kankel (17)

25 Schüler aus drei Klassen der Modernen Schule Hamburg (MSH) und drei Lehrer. Zusammen an einem Ort, der eher aussah wie das Innere der Elbphilharmonie und kein Gebäude für Passkontrolle und Gepäckrückgabe. Allerdings war dies nicht das Erste, was mir in diesem Land vor die Nase kam. Das Erste, was mir hier auffiel, war etwas Ungewöhnliches. Zumindest ist es schwer zu beschreiben. Es war ein Block mit einer Tür drin, ähnlich wie ein Toilettenhäuschen. Nur war auf der Tür ein Verbotsschild und auf dem Dach des Häuschens – Kameras. Viele, viele Kameras. Ihre Halterungen bogen sich wie die Äste einer Pflanze aus dem Dach. Die Kameras hingen an ihnen wie Blätter. Es war eine Art Baum. Ein Kamerabaum.

Wir mussten 24 Stunden vor der Reise ein Onlineformular ausfüllen, indem wir bestätigten, gegen Corona getestet zu sein. Aus dem Formular entsprang dann ein QR-Code. Diesen musste jeder bei der Einreise vorzeigen. Kein QR-Code – keine Einreise – keine Klassenfahrt. Zudem war noch ein Pass notwendig, am besten mit einem sauber eingeklebten Visum. Dieses wurde nach Fingerabdrucknahme, Gesicht-Scans und Computergetippe nüchtern abgestempelt. Und zack. Wir waren drin!

Unser Gepäck befand sich in einem anderen Gebäude, das über eine eigene U-Bahn mit dem Einreisekomplex verbunden war. Wir versuchten alle, noch hineinzugelangen, aber ein Countdown über der Wagentür besiegelte unser Schicksal. Wenn da eine Null stand, dann ging die Tür zu, egal was passierte. Traurig schaute ich und noch ein paar andere unserer Gruppe hinterher. Aber kein Problem! Die U-Bahn fuhr im Zwei-Minutentakt. Eine U-Bahn, die nur dafür da war, zwei Flughafengebäude miteinander zu verbinden.

Trotzdem fanden wieder zueinander: der Rest der Gruppe, wir, die Zurückgebliebenen und unser Gepäck. Und wir entdeckten unseren Guide. Dieser führte uns vom gigantischen Flughafen in einen Reisebus. Der Bus fuhr los und unsere Reise begann. Er stellte sich uns und die Stadt vor, die wir schon im Flugzeug, von oben betrachten konnten. Nach vierzehn Stunden in der Luft, sieben Zeitstunden, mit Pinkelpause in Dubai, waren wir alle sehr matschig im Kopf. Trotzdem versuchten wir, noch Wissen aufzunehmen. Wir fuhren über eine Autobahn und unser Guide erklärte uns, man könne diese Schnellstraße so lange befahren, wie die Strecke von Hamburg bis nach Flensburg und man hätte immer noch nicht diese Stadt verlassen. Bei dem unendlichen Lichtermeer, was wir bereits vor Stunden aus dem Flugzeug gesehen hatten, klang das plausibel.

Um ein Uhr Ortszeit kamen wir im Hotel an. Man hätte jetzt vieles machen können, aber einfach nur schlafen tat es auch. Am nächsten Morgen mussten wir wieder früh aufstehen. Als ich um acht Uhr die Vorhänge vom Zimmerfenster öffnete, waren die Straßen bereits mit Autos, Mopeds und Fußgängern gefüllt. Das Badezimmer roch nach Chlor. Bereits vor der Reise wurden wir gewarnt, irgendwo Wasser aus der Leitung zu trinken. Also begossen mein Zimmergenosse und ich unsere Zahnbürsten mit Flaschenwasser und gingen zum Frühstück. Es gab ein üppiges Frühstücksbuffet mit gebratenem Reis, Fleisch mit Gemüse und Eiern in sämtlichen Denaturierungsstufen. Dazu noch einen Algensalat und Teigklumpen mit Bohnenmusfüllung. Für ein Hotelfrühstück eine neue, köstliche Erfahrung.

Direkt nach dieser Stärkung mussten wir unsere Sachen wieder packen und in unseren Reisebus. Wir fuhren zum Hauptbahnhof dieser unendlichen Stadt. Die Hamburger Zeppelinhalle war nichts gegen diesen Bahnhof. Im Gegensatz zu Hamburg gab es hier keine Obdachlosen. In einem abgesperrten Bereich vor dem Eingang stand stattdessen ein schwarz uniformierter Polizist mit Maschinengewehr und neben ihm ein gepanzerter Geländewagen. Im Bahnhof wurde unser Gepäck durchleuchtet, und dann stiegen wir in diesen sogenannten Zug. Das war jedoch vielmehr eine Rakete. Ein Shuttle zum Mars. Aber auf keinen Fall ein verspäteter Intercity. Der Zug fuhr 348 km/h. Er konnte gar nicht zu spät kommen. Geschwindigkeitstechnisch war er gar nicht in der Lage dazu. So kamen wir von der einen unendlichen Großstadt, in ein paar Stunden in die nächste gigantische Urbanität. Diese hieß Xi’An.

Dort angekommen, erwartete und begrüßte uns die Fachschaft des Deutschunterrichts unserer dortigen Partnerschule. Erstes Gruppenfoto. Dann stiegen wir in einen Bus zur Partnerschule. Auf dem Schulgelände wurden wir von unseren Gastfamilien empfangen. Mein Gastschüler fragte mich gleich nach meinen Hobbies aus. Ich antwortete trilingual auf Englisch, vermischt mit mühevoll zusammengekratztem Mandarin und amorphem, deutschen Satzbau. Aber wir verstanden uns trotzdem. In einem anderen Gebäude, auf dem Campus, kam es zur offiziellen Willkommenszeremonie. Mein Gastschüler und ich tauschten ein Buch aus.

Dann wurde es dunkel, und er fragte mich, ob wir jetzt die Schule verlassen wollten. Er drückte seiner Mutter meinen Reisekoffer in die Hand und sagte mir, ich solle ihr folgen. Er fuhr mit einem Fahrrad vor. Der Mutter folgend, ging ich durch die Straßen von Xi’An. Die Häuser waren riesig. Zumindest für Hamburger Wohnblockverhältnisse. Jedes Haus schien ein Wolkenkratzer zu sein. Außerdem leuchteten sie alle. Die Fenster, die Autos, die Reklametafeln, alles leuchtete. Dabei bemerkte ich erst im letzten Moment, wie meine Gastmutter in ein Restaurant einbog. Mein Gastschüler war schon dort und fragte mich, was ich essen wolle. Nicht so leicht, bei der Reizüberflutung und der Karte in Schriftzeichen. Ich sagte ihm, er solle das bestellen, was er für am leckersten hielt. Daraufhin wurde Reis gebracht, gebratenes Gemüse und Fleisch, Nudeln und Oktopusarme, die meine Gastmutter wie Spaghetti verspeiste. Ich hingegen war nicht einmal in der Lage, die Stäbchen zu halten. Meine Aufregung war zu groß, ich konnte nicht essen. Dies sagte ich meinem Gastschüler. Ich fühlte mich schlecht, dass sie all diese leckeren Speisen gekauft hatten und ich nicht mal alle probieren konnte, weil mir vor Aufregung schlecht wurde. Aber mein Gastschüler fand es gar nicht schlimm. Wir drei verließen das Restaurant. Die fast vollen Schüsseln ließen wir stehen. Dass dieses nicht Aufessen der Mahlzeiten im Land der Mitte völlig normal ist, musste ich erst noch lernen.

Dann gingen wir zu meinem neuen Gastzuhause. Es war eine kleine Dreizimmerwohnung im siebten Stock. Der Flur bestand aus nacktem Beton – Plattenbauästhetik. Die Wohnungstür wurde mit einem Code geöffnet. Da sich bei mir eine kontinuierliche Müdigkeit einstellte, ging ich gleich ins Bett. Ich brauchte Zeit, um Kraft zu sammeln für die Terrakottaarmee, die verbotene Stadt, die Große Mauer und noch vieles mehr. Aber jetzt schlief ich erst mal ein. Allein. In einem fremden Bett. In einer Familie, die ich erst seit ein paar Stunden kannte. In einer Stadt, doppelt so groß wie Berlin und dreimal so wach. In einem Land, das ich nur aus den Nachrichten kannte. Und in einer Kultur, die ich jetzt hautnah erleben sollte. Auf einer Klassenfahrt von Groß Borstel, nach China.

Text und Fotos: Stanley Kankel