Die Vermieterin
Den Film „Majestät brauchen Sonne“, wollte ich unbedingt noch sehen. Nun, er war überall schon gewesen, nur Sonntagnachmittag um 15 Uhr gab es ihn noch in Blankenese in dem kleinen gemütlichen Kino . Mit meiner Freundin Gwendolin fuhr ich dorthin und war fasziniert von seiner Majestät, Wilhelm II., der dies nach ihm benannte Zeitalter geprägt hat.
Als der Film, der mit drei Farben zum Farbfilm wurde und trotz seines Wochenschaucharakters sehr beeindruckte, zu Ende war, stiefelte ich mit meiner Freundin auf den Treppen Blankeneses umher. Wir wanderten den Strandweg entlang und dann links in die Breckwoldtstraße hinein. Hier hatte in Nummer 10 Vilma Mönckeberg-Kollmar, die Märchenerzählerin, gewohnt, die ich so oft besucht hatte. Weiter ging es zu unserem Auto, das ich vor dem Haus Baurs Park 1 geparkt hatte.
In diesem Haus hatte Frau Thun, Tierarztwitwe, mit der Haushälterin Marianne Schulze gewohnt.
Frau Thun war eine geborene Hinsch, eine Bauerntochter aus Groß Borstel. Ihr gehörte das Haus, in dem wir noch immer wohnen, in das wir aber 1968 zogen, in einen bestehenden Mietvertrag eintretend.
Alice Thun kam also aus Groß Borstel. Ihr Vater, ein wohlhabender Bauer, hatte vier Töchter und einen Sohn. Somit war das Erbe, der Hof, gesichert.
Da der alte Bauer seine Töchter gleichermaßen liebte, beschloss er, eine große Wiese, die schon als Baugrundstück ausgewiesen war, zu parzellieren und jeder Tochter ein gleiches Haus der Zeit zu bauen; es war im Jahre 1902. Die Häuser mit Erker und Terrasse, wenn auch zum Norden, so doch nach vorn gebaut, weil man so besser die Straße überblicken konnte, dazu oben ein kleiner Balkon, sind eine Rarität. Sie sehen entzückend aus, wie die kleinen Schwestern der großen Jugendstilhäuser in Eppendorf, die dort ganze Straßenzüge bilden, und heute, bunt bemalt, meist in Pastellfarben, den Fremden große Bewunderung abringen und den Einheimischen das Gefühl geben, in einer heilen Welt zu leben.
Jedes Haus hat in so langer Zeit, in der zwei Kriege stattfanden, natürlich seine Geschichte gehabt. Das erste Haus in der Stavenhagenstraße wurde durch Bombeneinwirkung 1943 zerstört, so dass es nun nur noch drei Schwesternhäuser gibt.
Das zweite Haus beherbergte fast unmittelbar nach seiner Erbauung bis in unsere Tage hinein eine Familie, die sich mehr und mehr verkleinerte. Als schließlich die letzte alte Dame in ein Altersheim kam, meldete sich die Eigentümerin, die Enkelin einer der vier Töchter, und konnte endlich ihr Haus beziehen. So zog sie hinein mit Mann und Kindern. Sie sind bis jetzt unsere reizenden Nachbarn geblieben. So war es auch verzeihlich, dass ihr Jugendstilhaus dunkelblau gestrichen wurde mit weinroten Fenstern.
Dem Haus der vierten Tochter erging es zuerst sehr schlecht. In den dreißiger Jahren wurde es von einem Beamtenehepaar gekauft, das dies schöne Haus mit gelben Klinkern ummauerte. Die hohen Fenster wurden in breite verwandelt. Es war überhaupt keine Verwandtschaft mit den beiden Schwesternhäuser zu erahnen. Nach dem Tod des Ehepaares, vor einigen Jahren, hatten die Erben es schwer, dies Haus zu verkaufen. Eines Tages im Frühling ging eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm hinten im Garten auf und ab. Ich eilte durch die Küchentür auf die Terrasse und fragte: “Sind Sie meine neue Nachbarin“. „Ja, aber ich bin gar nicht so glücklich. Natürlich das Grundstück ist gut, aber der Stil. Wenn ich nur so ein Jugendstilhaus hätte wie Sie, dann..“ Ich unterbrach sie: “Aber, das ist keine Schwierigkeit, daraus wieder so ein Haus zu machen, denn es waren ja mal vier Schwestern. “Ich erzählte die Geschichte der Häuser. „Ihr Mann soll nur die gelben Klinker abklopfen, dann hat er wieder den urspünglichen Putz, der Jugendstil kommt heraus.“ Es dauerte nicht lange, da wurde gehämmert, geklopft und siehe da: Heute ist das vierte Haus wieder im alten Glanz erstrahlt. Die Fenster wurden hochgezogen, die Stuckatur herausgearbeitet. Der Vordergarten hat runde Buchsbaumkugeln bekommen. Ist es schon ein Genuss, in dieser Straße spazieren zu gehen, so ist es noch schöner, darin zu wohnen mit den netten Nachbarn.
Unser Haus, das dritte in der Reihe, sah, als wir einzogen, ziemlich renovierbedürftig aus.
Wie es damals üblich war, machten mein Mann und ich bald einen Antrittsbesuch bei der, wie uns schien, alten Dame, in Blankenese. So holte ich mein schwarzes Standesamtskostüm heraus, eine seidene Bluse und ein kleiner Strohhut vervollkommneten meine offizielle Erscheinung.
Frau Thun, ich denke, dass sie so 1885 geboren wurde, und gerade im heiratsfähigen Alter war, als ihr fürsorglicher Vater diese Straße schuf, die zuerst Königsstraße hieß, war die dritte Schwester. Sie hatte das Glück, bald einen Tierarzt, einen Akademiker, zu heiraten. Ich will nicht sagen, dass ihr der Umzug von Groß Borstel nach Blankenese zu Kopf gestiegen war. Doch wer in Blankenese wohnte, gehörte dazu, zur guten Hamburger Gesellschaft, in die hinein zu kommen damals so schwierig war wie heute.
So auf die Elbe zu blicken und dem Hin- und Hergleiten der großen Schiffe zuzuschauen, da hatte man die weite Welt vor Augen . Das war natürlich etwas anderes, als im Grünen vor der Stadt zu leben, wo es bis in unsere Tage keine Kirche gab und erst spät die Straßenbahn, eine Nr. 18, die Groß Borsteler mit Eppendorf, der Stadt, verband. Unsere Vermieterin kam also „vom Lande“.
Als sie uns an einem hellen Frühlingstag empfing, jovial und freundlich, flößte sie mir Respekt ein. Ihre Gestalt war groß, korpulent. Sie trug ein langes, dunkles, hochgeschlossenes Kleid mit weißem Jabot. Langsam durchmaß sie die Räume bis sie vor dem breiten Fenster mit Elbblick stehen blieb. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und in der Ferne konnte man ein großes Schiff erahnen. Kleine Schuten und Dampfer nahmen dem Bild das Statische.
„Dies ist mein Lieblingsplatz“, sagte sie und deutete auf den großen Lehnstuhl mit dem Schemel davor. Nun bot sie uns ihre Sitzgruppe an und nahm in dem einen Sessel Platz.
Marianne, wie wir ihre Haushälterin auch nannten, bis sie Eigentümerin unseres Hauses wurde, (dann hieß sie Frau Schulze), brachte eigenen Apfelsaft. Wir kamen zögernd ins Gespräch. Ich wollte gern einen guten Eindruck machen und saß nur halb auf dem Stuhl.
„Der Name Bartram“ , meinte unsere Hauseigentümerin, „ sagt mir etwas.
Ich frage nach einem Arzt Sanitätsrat Dr. Bartram.“ „Das war mein Großvater,“ entgegnete ich.
„Ja, und der hat meinem Mann das Leben gerettet, d.h. ihm überhaupt erst zum Leben verholfen. Mein Mann war Bauernsohn aus Tungendorf. Ihr Großvater wurde als Arzt und Geburtshelfer zu dieser schwierigen Geburt bei Nacht gerufen und hat einen kleinen blauen Wurm herausgeholt, der absolut nicht atmen wollte. Da hat Ihr Großvater um Kognac gebeten und diesem fast lebensunfähigen Baby hinten oder vorne Kognak eingeflößt, man meint hinten, bis dieser Balg zu brüllen begann. Meine Schwiegermutter hat dies immer wieder berichtet und war stets so stolz auf ihren Sohn, der es zum Tierarzt brachte und in www.Blankenese leben konnte.“
Sie seufzte und schaute mich verzückt an. – Dann kam ihr wieder zum Bewusstsein, warum wir hier waren. „Das Haus in der Stavenhagenstraße ist ziemlich heruntergekommen. All die Mieter in all den Jahren. Es ist immer so, wenn der Eigentümer nicht selbst im Hause wohnt. Aber ich will nun etwas für Sie tun. Zunächst muss das Haus von außen gestrichen werden. Sie können sich gern eine Farbe aussuchen.“ „Dann muss es rosa sein, altrosa, “sprudelte es aus mir heraus. Ich dachte an das geliebte Rosa-Haus meiner Tante in Jungholz, in dem ich Vilma Mönckeberg-Kollmar kennen gelernt hatte.
„Rosa, hm, nun wenn Sie meinen,“ entgegnete zögernd Frau Thun. „Wenn es jetzt modern ist, Sie sollen ja darin wohnen.“
So schickte sie mir ihren tüchtigen Maler Horst Stark.
Damals hatte ich eine pflegeleichte wie Rips aussehende altrosa Hose zu meinem weißen Pulli an. Ich sagte überzeugt zu Herrn Stark: “So, genauso muss die Farbe sein.“ Und ich stellte mich an die Hauswand. Herr Stark machte alles mit und strich Probefarben auf das alte Haus, bis endlich die altrosa Farbe meinem Geschmack entsprach.
In der Weihnachtszeit besuchte uns Frau Thun mit Marianne. Ich backte und bot Quittenbrot an. Sie war ja „vom Lande“ und wusste dies zu schätzen, ebenso Marianne, die meine Schichttorte liebte.
Die gute Marianne war so etwas wie ein Faktotum. Man hatte sie dreimal am Heiraten gehindert, damit sie ihrer Herrschaft treu bleiben konnte und sie zu Tode pflegen und ihr dafür dies Haus als Erbe versprochen. Es war auch deshalb für uns nicht möglich, ein Vorkaufsrecht zu bekommen.
Es erging ihr so wie der alten Gertrud bei Tante Vilma. Auch sie kam nicht zum Heiraten, blieb der Herrschaft treu. Es ist kein Wunder, dass die beiden Haushälterinnen miteinander lange Gespräche führten. Sie spazierten den Baurs Park entlang, an dem großen Strohdachhaus vorbei, das dem Reeder Schuldt gehört hatte. Seine Witwe verkaufte es an den bekannten Hamburger Architekten Cäsar Pinnau. Das Strohdachhaus musste einem Oktogon weichen. Die freistehenden Buchen, Linden, Eichen gaben der parkartigen Landschaft etwas Erhabenes. Die beiden Spaziergängerinnen sahen sehnsuchtsvoll die vorbeidampfenden Handels – und Kreuzfahrtschiffe an. Aber sie blieben ihrer Herrschaft bis zum Tode treu und sogar darüber hinaus, wie Marianne uns bewies.
Als dann Ende der siebziger Jahre Frau Thun starb, war ich mit dem schwarzen Kostüm dabei. Auch der Hut, den ich beim ersten Besuch getragen hatte, war noch derselbe. Es war mit den alten Freunden und Nachbarn der verstorbenen Vermieterin wie in einer Familie. Auch hier umsorgte Marianne alle in Sinne von Frau Thun.
Oft kam Frau Schulze dann zu uns. Sie liebte unsere Kinder sehr, besonders den Jüngsten, Christian, und konnte herrlich mit ihm lachen.
Da sie ein lebenslängliches Wohnrecht in Baurs Park hatte, ihr dann in der Stavenhagenstraße die Reparaturen über den Kopf wuchsen, bot sie uns 1985 , als sie sechzig Jahre alt geworden war und die Rente eingereicht hatte, an, dieses Haus zu kaufen.
Mein Mann war inzwischen fünfundsechzig Jahre alt und bekam seine Lebensversicherung ausgezahlt. Obwohl Frau Schulze mit einem gewieften Makler kam, und ich allein verhandelte, gestand ich ihr, nicht mehr als eben den Betrag der Lebensversicherung zahlen zu können.
Sie willigte gegen den Willen des Maklers ein: “So viel Geld brauche ich auch gar nicht. Mir ist es wichtig, dass meine Herrschaft , die vom Himmel aus dies sieht, mit mir zufrieden ist. Und sie mochte nun mal diese Familie um des Sanitätsrats Bartram willen, der ihren Mann, den sie sehr liebte und leider keine Kinder mit ihm bekam, ins Leben gebracht hatte.“
Und da sie meinte, dass ein Streichen des Hauses wieder notwendig sei, bezahlte sie auch noch den Außenanstrich an Herrn Stark.
Als ich mit meiner Freundin aus dem Kino gekommen war und vor diesem Haus der Frau Thun, Baurs Park 1, stand, wurde mir die Geschichte lebendig. Ich wusste, dass mein Großvater, der auch schon 1892 bei der Cholera-Epidemie in Hamburg als junger Arzt seine Sporen verdient hatte, bei ihr sehr angesehen war.
„Wie klein die Welt manchmal ist“, sagte ich zu meiner Freundin.
„Wie meinst du das?“ fragte sie. „Ich werde dir die Geschichte erzählen, die mir eben durch den Kopf gegangen ist, als wir vor diesem Haus Baurs Park 1 stehen geblieben waren.“
So ließen wir das Auto an seinem Platz und gingen in das kleine Café an der Ecke zur Bahnhofstraße mit dem bezaubernden Elbblick, und ich erzählte Gwendolin diese Geschichte von der Vermieterin und meinem Großvater, und wie wir zu unserem Haus gekommen waren.
Antje Thietz-Bartram