Das Stavenhagenhaus – Häuser, die Geschichte erzählen
Das Stavenhagenhaus ist einer der Prachtbauten von Groß Borstel. Es liegt „auf dem Frustberg“ – von einem Berg ist allerdings heute nicht viel zu sehen. Einst lag das stattliche Haus inmitten großer Gärten. Von diesen ist auch nicht viel übrig geblieben. Die Postanschrift „Frustbergstraße“ gehört heute aber immer noch zu den besten Adressen in Groß Borstel. Das Kopfsteinpflaster zeugt von einer langen Geschichte der Straße, aber so alt wie das Stavenhagenhaus ist das Pflaster nicht.
Das Haus wurde in seiner jetzigen Form 1703 erbaut und gehörte wie das Land drumherum der Familie Tiefbrunn, einer sehr wohlhabenden Tuchhändler-Familie. 1793 ging das Haus in den Besitz der Familie Gossler über, Teilhaber des Bankhauses „Berenberg, Gossler und Co.“ Elisabeth Gossler, geborene Berenberg, Stammmutter einiger Hamburger Senatoren und Bürgermeister, machte das Haus zu einem beliebten gesellschaftlichen Treffpunkt und empfing zahlreiche illustre Gäste. Zu diesen gehörten der Maler Philipp Otto Runge und der preußische Generalfeldmarschall Leberecht von Blücher. Die Konterfeis der beiden Männer hängen im Großen Saal des Stavenhagenhauses.
Runge wurde 1777 in Wolgast geboren, dem letzten Ort auf dem Festland vor dem kurzen Übertritt auf die Osteeinsel Usedom. Damals war Wolgast ein Teil Schwedisch-Pommerns. Philipp Otto Runge war das neunte von insgesamt elf Kindern. Mit 15 Jahren erkrankte er schwer an Lungentuberkulose. Zwar erholte er sich, doch ihm war kein langes Leben beschieden. 1795 ging er zusammen mit seinem älteren Bruder nach Hamburg, um im Geschäft des Bruders eine Kaufmannslehre zu beginnen.
Zum Freundeskreis seines Bruders gehörte neben anderen der Dichter Matthias Claudius, der eine Zeit lang für den Wandsbeker Boten schrieb, und Friedrich Gottlieb Klopstock. Klopstock ermunterte Runge sein künstlerisches Talent zu pflegen. Runge studierte in Hamburg, Kopenhagen und in Dresden Malerei. In Dresden traf er den Dichter Ludwig Tieck und den Maler Casper David Friedrich, mit dem er die Neigung zur Romantik teilte. Bei einem Besuch in Weimar lernte Runge Johann Wolfgang von Goethe kennen. Später schickte er dem „Dichterfürsten“ regelmäßig Scherenschnitte, für die Runge eine besondere Vorliebe hatte, und tauschte sich mit Goethe über eine Farbenlehre aus:
„Sie haben mir, werthester Herr Runge, durch Ihren Aufsatz sehr viel Vergnügen gemacht: denn wie sehr meine Vorstellungsweise mit der Ihrigen zusammentrifft, ergiebt sich schon daraus, daß ich am Schlusse meines Entwurfs einer Farbenlehre einige früher mitgetheilte Blätter mit abdrucken ließ…“ (aus einem Brief von Goethe an Runge).
1804 heiratet Runge in Dresden Pauline Susanna Bassenge, Tochter eines belgischen Handschuh-Fabrikanten, und zog mit ihr nach Hamburg. Als Hamburg 1806 von den Franzosen besetzt wurde, flüchteten die Runges, wie viele andere Hamburger auch, aus der Stadt. Die französische Kontinentalsperre gegen England führte in Hamburg – bis dahin enger Handelspartner Englands – zu großer wirtschaftlicher Not. Die Franzosen behandelten die Bürger zudem schlecht, funktionierten die Hamburger Kirchen zu Pferdeställen um, legten der Stadt Strafzahlungen und den Bürgern Sondersteuern auf. Ihre Soldaten quartierten die Franzosen in Bürgerhäusern ein. Auch das Stavenhagenhaus diente als Unterkunft für Offiziere der Französischen Armee.
Erst 1814 wurde Hamburg endgültig von den Franzosen befreit. Die Anzahl der Einwohner Hamburgs war in der Zeit der französischen Besetzung dramatisch gesunken, um die Hälfte auf 55.000. Philipp Otto Runge und seine Frau waren in Runges Geburtsstadt Wolgast geflüchtet, kehrten aber schon 1807 zurück. Dem Paar wurden nun drei Kinder geboren. Runges jüngster Sohn erblickt am 3.12.1810 das Licht der Welt, einen Tag nachdem sein Vater, 33-jährig, an seiner Tuberkulose gestorben war. Kurz vor seinem Tod war Philipp Otto Runge 1810 noch Gast der Familie Gossler im Stavenhagenhaus. Das genaue Datum kennt man aus einem seiner Briefe. Am 13. Juli 1810 wurde er von „Madame Goßler herüber geholt.“ Er wohnte also offenbar zu dieser Zeit, schon sehr krank, auch in Groß Borstel. Sein Geburtshaus in Wolgast, das Rungehaus, gleich an der Brücke zu Usedom, dient heute als Museum.
Ein ganz anderer Charakter war Leberecht von Blücher. Als Soldat spielte er in den Befreiungskriegen gegen Napoleon eine entscheidende Rolle. Blücher stammte aus Rostock, 1742 dort geboren, wuchs auf der Insel Rügen auf, die zu dieser Zeit auch zu Schweden gehörte, und trat zusammen mit seinem Bruder in die Schwedische Armee ein. 1760 wurde er von den Preußen gefangen genommen und „umgedreht“. Bei den preußischen Husaren erwarb sich Blücher einige Meriten, fiel dann aber bei Friedrich dem Großen in Ungnade („Der Rittmeister von Blücher kann sich zum Teufel scheren.“).
Nach einer Zeit als Privatier kehrte Blücher 1787 unter Friederichs Nachfolger Wilhelm II. wieder in die Armee zurück. In den Jahren 1806 und 1807 beschäftigte er mit einer kleinen preußischen Armee lange Zeit eine französische Übermacht und erwarb sich dadurch großen Ruhm und Respekt selbst bei seinen Feinden. 1807 wurde er in Lübeck von den Franzosen gefangen genommen, später aber ausgetauscht – eine ehrenhafte Geste, aber ein Fehler! 1815 besiegte Blücher nämlich zusammen mit Wellington Napoleon bei Waterloo. Zum Dank wurde er 1816 von der Stadt Hamburg zum Ehrenbürger ernannt. Seinen Namen hat das Stavenhagenhaus aber weder von einem seiner Gäste noch von seinen ehemaligen Besitzern.
Benannt wurde es nach der Sanierung im Jahr 1961 nach Fritz Stavenhagen, einem Dramaturg, der sich mit Stücken in niederdeutscher Mundart einen Namen gemacht hat und der eine Zeit lang gleich „um die Ecke“ wohnte, in der Königsstraße, die heute nach ihm Stavenhagenstraße heißt. Stavenhagen lief knapp 100 Jahre nach Blücher und Runge durch die Wiesen und Wege Groß Borstels. Mit Runge teilt Stavenhagen das Schicksal eines kurzen Lebens. Er starb 1906 mit 29 Jahren an einem Gallenleiden.
Sein Denkmal, das einst auf der gegenüber liegenden Seite errichtet wurde, steht nun direkt vor dem Eingang des Stavenhagenhauses.
André Schulz