Als Soldat

Timo Hafer ist vereidigt worden

Anfang der 70er-Jahre erreichte eine Postkarte das Kreiswehrersatzamt in der idyllisch gelegenen Straße Sophienterrasse in Hamburg-Harvestehude. Die Vorderseite zeigte einen Dinosaurier. Text: „Ausgestorben. Zuviel Panzer, zu wenig Hirn.“ Auf der Rückseite die eigentliche Mitteilung: Hiermit verweigere ich den Kriegsdienst gemäß Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz. Absender, Datum, Unterschrift.

Die Bundeswehr war fast so verhasst wie die Bildzeitung, jedenfalls in großen Teilen der Studentenschaft. Oder sagt man jetzt Studierendenschaft? Vieles hat sich geändert in den letzten 50 Jahren. Auch die Einstellung zur Bundeswehr ist heute eine vollkommen andere. Nicht erst, seitdem Deutschland am Hindukusch verteidigt werden sollte (Peter Struck, SPD), sprich in Afghanistan. Die Konflikte rücken näher. Syrien, Jemen, das Horn von Afrika, Mali, Israel, Libanon, Gaza. Und jetzt die Ukraine. Es sind keine Konflikte mehr, die weit weg sind. Der Krieg steht vor der Tür. Deutschland in Reichweite von ballistischen Raketen, Drohnen, Hyperschallwaffen.

Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) setzte 2011 die Wehrpflicht aus – es war eine seiner letzten großen Amtshandlungen als Verteidigungsminister, bevor er über seine Plagiatsaffäre stolperte. Mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz wurde die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt (nicht abgeschafft), dafür ein freiwilliger Wehrdienst von 6 bis 23 Monaten geschaffen, der Männern und Frauen gleichermaßen offensteht (Webarchiv Deutscher Bundestag). Zu diesem Zeitpunkt war Timo Hafer 13 Jahre alt.

Heute – fünf Jahre später – ist Timo Hafer Soldat geworden. Das Foto wurde drei Tage nach seiner Vereidigung aufgenommen und genau drei Monate, nachdem er im Oktober den Wehrdienst bei der deutschen Bundeswehr angetreten hat: als Soldat auf Zeit – für zwei Jahre hat er sich verpflichtet. Fotografiert von jenem Kriegsdienstverweigerer, der Anfang der 70er-Jahre die oben beschriebene Postkarte verschickte. Genau dieser 73-Jährige sitzt nun in der Bauerndiele des Stavenhagenhauses dem 18-jährigen Soldaten Timo Hafer gegenüber, um ihn über die Beweggründe seines Dienstantritts und den ersten Erfahrungen bei der Bundeswehr zu interviewen.

„Timo, wie war dein erster Tag beim Bund in Hagenow?“

„Wir wurden natürlich vom Kompaniechef begrüßt und wenig später schon in unsere Züge eingeteilt …“, antwortet Timo Hafer.

„Züge?“ – „Ja, Züge. Wir waren an dem Tag 140 Leute, die den Dienst angetreten haben und die dann in die Züge A, B und D eingeteilt wurden. Jeder Zug hat etwa 40 Kameraden. Von denen haben aber einige wenige schon nach vier oder fünf Tagen bemerkt, dass die Bundeswehr nichts für sie ist.“

Aus Timos Zug, er hat das Vokabular der Bundeswehr schnell gelernt, sind bis heute sieben Wehrdienstleistende nicht mehr dabei. Das hat nach Timos Aussage unterschiedliche Gründe. Einigen waren die Anforderungen körperlich zu hoch. Sie hatten Probleme beim Lauf mit Hindernissen über vier Kilometer beispielsweise. Andere hielten die psychischen Belastungen nicht aus, hatten etwa Heimweh.

Bevor es aber losging mit den körperlichen Belastungen, marschierte der Zug im Gleichschritt zur nahe gelegenen Unterkunft. Dort wurden ihnen ihre „Stube“ zugewiesen und sie wurden mit den Abläufen vertraut gemacht. An einem der folgenden Tage ging es mit dem Bus gemeinsam zur Kleiderkammer nach Hamburg. Jeder erhielt die Ausgehuniform (siehe Foto), dreimal Feldanzüge (Kampfkleidung), Stiefel, Unterwäsche und dergleichen.

Der zweite Tag begann pünktlich um fünf Uhr. Geweckt wird nicht mit Kaffeeduft und leiser Musik. Nein, mit Trillerpfeife. Im Flur schreit der Zugführer aus vollem Hals: „Aufstehen, aufstehen!“ Zudem lautes Klopfen an den Türen, manchmal Tritte an die Türblätter. „Antreten um 5.25 Uhr! Abmarsch zur Kantine!“ Für Timo eine Umstellung. Er hatte sich nach dem Abitur gerade damit arrangiert, bis 10 Uhr auszuschlafen zu können. „Aber man gewöhnt sich schnell an das frühe Aufstehen.“

Die Ausbilder sind nach Timo Hafers Beschreibung „ausgesprochen freundlich und angenehm im Umgang“. Die Tage der dreimonatigen Grundausbildung sind ausgefüllt mit formellem Unterricht über Vorschriften bei der Bundeswehr, und abwechselnd dazu gibt es körperliche Übungen. Zum Beispiel 10 Kilometer laufen. Letztlich erwerben die jungen Rekruten neben der körperlichen Fitness ihr militärisches „Handwerkszeug“, die militärische „Grundbefähigung“.

Es herrscht Disziplin und Kameradschaft. Auch Strafen kann es geben. Beispielsweise bei Handynutzung oder Bier auf der Stube – nicht erlaubt. Zur Strafe gibt es dann eine EZM, eine erzieherische Maßnahme, etwa eine Stunde weniger Freizeit.

Die Bundeswehr liebt Abkürzungen. Manche sind einfach in ihrer Bedeutung zu erraten. Der Schütze (niederster Dienstgrad) wird Schtz abgekürzt. Aber EU ist nicht die Europäische Union, sondern in der Bundeswehr die Abkürzung für Erholungsurlaub. KOM ist die Abkürzung für Bus, angeblich hergeleitet aus Kraftomnibus. Man unterscheidet auch KzH von KaS, sprich „Krank zu Hause“ von „Krank auf Stube“. Die Bundeswehr nutzt eine Vielzahl von Abkürzungen, vorgeblich um Dokumente, wie zum Beispiel Befehle, kürzer zu halten und Zeit zu sparen.

Alkohol auf Stube ist auch verboten. Man will ja keine EZM riskieren. Die Kameraden sitzen lieber im Mannschaftsheim und trinken zur Currywurst maximal zwei Bier. Das ist legal. Drei Bier? In der Kaserne verboten. Alternative: eine der beiden Dönerläden oder der Pennymarkt in Hagenow. Die Angebote außerhalb der Kaserne hält Timo Hafer für „überschaubar“.

Zum Alltag in der Bundeswehr gehört auch der Dienst an der Waffe. Zuerst wurde den Rekruten theoretisch alles erklärt, damit bei der Handhabung später nichts daneben geht. „Wir lernen Mündungsbewusstsein.“ Wieder so ein Begriff. Dabei geht es darum, nicht versehentlich auf Kameraden zu zielen oder sich selbst zu gefährden. Ansonsten wird geübt, wie man das aus den Filmen kennt: Die Waffe wird immer wieder auseinandergebaut und dann wieder zusammengesetzt, bis man das Waffenpuzzle quasi im Schlaf beherrscht. Klar. Man muss wissen, etwa im Kampfeinsatz, wie das Gewehr funktioniert. Erst wenn der Zusammenbau des Geräts sicher beherrscht wird, darf auch geschossen werden.

„Es wird viel über Munitionsmangel bei der Bundeswehr geredet“, wundert sich Timo Hafer. „Das konnte ich in Hagenow noch nicht feststellen.“ Am Schießstand wird offenbar geballert, was das Zeug hergibt. Das Standardgewehr der Bundeswehr ist das unter den damaligen CDU-Verteidigungsministerinnen Ursula von der Leyen (2013 – 2019) und Annegret Kramp-Karrenbauer (2019 – 2021) viel kritisierte Maschinengewehr G36 von Heckler & Koch. Es ist ein Sturmgewehr, das Einzelfeuer und Feuerstöße verschießen kann, aber angeblich – so die Kritik – bei starker Belastung und anspruchsvollen klimatischen Bedingungen keine ausreichende Treffgenauigkeit besitzt.

Timo Hafer ist bewusst, er kann im Ernstfall zur Verteidigung herangezogen werden. Und wie der Ernstfall aussieht, sehen wir nahezu täglich in der Tagesschau in Bildern aus der Ukraine.

„Ist das dein Ziel, Timo?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich will mich schon im Ernstfall verteidigen können. Auf jeden Fall ist das besser, als wenn man es nicht gelernt hat.“

„Möchtest du dich im Laufe der weiteren Ausbildung spezialisieren? Etwa Panzer fahren lernen oder Lkw?“

„Ja, ich will mich als Aufklärer zu spezialisieren. Ich mache den zweijährigen Wehrdienst als Soldat, aber ich möchte mich nicht weiter verpflichten.“

„Zwei Jahre, und dann ist Schluss? Was hast du danach vor mit dem Abitur in der Tasche? Willst du studieren?“

„Ich habe vor, mich bei der Polizei zu bewerben. Ich will Polizist werden, das ist schon lange mein Berufswunsch. Ich denke, die Ausbildung bei der Bundeswehr ist dafür eine sehr gute Vorbereitung.“

Die Einstellung zur Bundeswehr hat sich in den letzten 50 Jahren erheblich geändert. Es gibt zwar noch viele Menschen, die sich überhaupt nicht vorstellen können, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen. Aber die Generation Timos, auch Generation Z genannt, denkt pragmatischer, weniger ideologieverhangen als die damalige Studentengeneration. Die Identifikation mit dem Staat scheint sich stärker entwickelt zu haben. Soldat oder Soldatin als Berufswahl, davor braucht sich niemand mehr zu verstecken. Die Bedrohungslage spielt eine Rolle, will man für das gestiegene Ansehen der Bundeswehr Erklärungen finden; die anspruchsvolleren Tätigkeiten mit Spezialqualifikationen im Heer, bei der Luftwaffe oder in der Marine tragen ebenfalls zum besseren Image bei.

Timo Hafer hat sich in der Ausbildung zum Aufklärer ein vielseitiges Aufgabengebiet vorgenommen. Wiki sagt: „Die Heeresaufklärungstruppe (HAufklTr) ist eine Truppengattung des Heeres der Bundeswehr. Sie zählt zu den Einsatz- und Führungsunterstützungstruppen. Hauptaufgabe ist die militärische Aufklärung gegnerischer Kräfte und die Erkundung unbekannten Geländes.“

Ich wünsche Timo in der Bundeswehr viel Erfolg. Und wenn er nach den zwei Jahren als Soldat tatsächlich Polizist werden sollte, dann machen wir hoffentlich den nächsten Artikel. Dann mit dem Titel „Als Polizist“.

Text + Foto: Uwe Schröder