ANGST GEHT UM IN DEUTSCHLAND
POLITIK GEGEN KRITISCHE VEREINE STÄRKT RECHTSPOPULISTEN
Esther Bejarano hat Angst. Sie ist 95 Jahre alt geworden, hat für ihre Verdienste unter anderem das Bundesverdienstkreuz am Bande und das große Bundesverdienstkreuz erhalten. Der Hamburger Senat verlieh ihr kürzlich die Ehrendenkmünze in Gold. Esther Bejarano hat viel erlebt, den Holocaust überlebt. Sie ist nach Israel ausgewandert und zurück in die Bundesrepublik gekommen.
Ihre Berichte, ihre Reden, ihre musikalischen Vorträge sind eine Warnung vor dem Nationalsozialismus gegen rechtspopulistische Tendenzen, Rassismus und Antisemitismus. Sie ist unermüdlich in ihrem bewundernswerten Engagement gegen rechts. Und doch hat sie wieder Angst.
Ausgerechnet dem VVN-BdA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und Bund der Antifaschisten, ist die Gemeinnützigkeit aberkannt worden, weil er sich „politisch betätigt“ und vom Verfassungsschutz als „linksextrem“ eingeschätzt wurde, wobei unklar blieb, was den Verfassungsschutz zu seiner Einschätzung brachte. Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit erfolgte vom Berliner Finanzamt, und zwar sechs Wochen nach den Anschlägen gegen eine Synagoge in Halle.
Der VVN-BdA ist ein ehrenwerter Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, durch Erziehung und Aufklärung in Schulen und Vereinen „eine Welt ohne Rassismus, Antisemitismus und Nazismus zu schaffen“. Diesen Verein als extremistisch einzustufen und ihm die Gemeinnützigkeit zu entziehen, ist laut TAZ „so hirnlos wie fatal“. Die Gefahr drohe vielmehr von rechts, also aus dem gegenüber liegenden Lager.
Esther Bejarano, die Ehrenvorsitzende des Vereins, hat sich an den Bundesfinanzminister gewandt, um eine Rücknahme der Entscheidung und gegebenenfalls eine Gesetzesänderung zu erwirken.
Wir drucken den Brief unseres Kommunalvereinsmitglieds im Folgenden ab.
VVN NICHT GEMEINNÜTZIG?!
ESTHER BEJARANOS OFFENER BRIEF AN BUNDESFINANZMINISTER OLAF SCHOLZ
Sehr geehrter Herr Minister Scholz,
seit 2008 bin ich die Ehrenvorsitzende der VVN–BdA, der gemeinnützigen Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, gegründet 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Verfolgten. Die Arbeit der Antifa, die Arbeit antifaschistischer Vereinigungen ist heute – immer noch – bitter nötig. Für uns Überlebende ist es unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt, wenn jüdische Menschen und Synagogen angegriffen werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren und extreme Rechte nicht mal mehr vor Angriffen gegen Vertreter des Staates zurückschrecken.
Wohin steuert die Bundesrepublik?
Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine schwere Kränkung für uns alle. „Die Bundesrepublik ist ein anderes, besseres Deutschland geworden“, hatten mir Freunde versichert, bevor ich vor fast 60 Jahren mit meiner Familie aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt bin. Alten und neuen Nazis bin ich hier trotzdem begegnet.
Aber hier habe ich verlässliche Freunde gefunden, Menschen, die im Widerstand gegen den NS gekämpft haben, die Antifaschistinnen und Antifaschisten. Nur ihnen konnte ich vertrauen.
Wir Überlebende der Shoah sind die unbequemen Mahner, aber wir haben unsere Hoffnung auf eine bessere und friedliche Welt nicht verloren. Dafür brauchen wir und die vielen, die denken wie wir, Hilfe! Wir brauchen Organisationen, die diese Arbeit unterstützen und koordinieren.
Nie habe ich mir vorstellen können, dass die Gemeinnützigkeit unserer Arbeit angezweifelt oder uns abgesprochen werden könnte! Dass ich das heute erleben muss!
Haben diejenigen schon gewonnen, die die Geschichte unseres Landes verfälschen wollen, die sie umschreiben und überschreiben wollen? Die von Gedenkstätten ‚als Denkmal der Schande‘ sprechen und den NS-Staat und seine Mordmaschine als ‚Vogelschiss in deutscher Geschichte‘ bezeichnen?
In den vergangenen Jahrzehnten habe ich viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, jetzt gerade wieder vom Hamburger Senat eine Ehrendenkmünze in Gold. Mein zweites Bundesverdienstkreuz, das Große, haben Sie mir im Jahr 2012 persönlich feierlich überreicht, eine Ehrung für hervorragende Verdienste um das Gemeinwohl, hieß es da. 2008 schon hatte der Bundespräsident mir das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse angeheftet. Darüber freue ich mich, denn jede einzelne Ehrung steht für Anerkennung meiner – unserer – Arbeit gegen das Vergessen, für ein „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus“, für unseren Kampf gegen alte und neue Nazis.
Wer aber Medaillen an Shoah-Überlebende vergibt, übernimmt auch eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung für das gemeinsame NIE WIEDER, das unserer Arbeit zugrunde liegt.
Und nun frage ich Sie:
Was kann gemeinnütziger sein, als diesen Kampf zu führen? Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?
Als zuständiger Minister der Finanzen fordere ich Sie auf, alles zu tun, um diese unsägliche, ungerechte Entscheidung der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Arbeit der VVN–BdA rückgängig zu machen und entsprechende Gesetzesänderungen vorzuschlagen.
Wir Überlebenden haben einen Auftrag zu erfüllen, der uns von den Millionen in den Konzentrationslagern und NS-Gefängnissen Ermordeten und Gequälten erteilt wurde. Dabei helfen uns viele Freundinnen und Freunde, die Antifaschistinnen und Antifaschisten – aus Liebe zur Menschheit! Lassen Sie nicht zu, dass diese Arbeit durch zusätzliche Steuerbelastungen noch weiter erschwert wird.
Mit freundlichen Grüßen, Esther Bejarano
Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN)