Der Literatursalon des Heinrich Israel Spiero (Teil I)
Der Name des Publizisten und Literaturwissenschaftlers Heinrich Spiero ist heute fast nur noch Kennern der deutschen Literaturgeschichte bekannt, obwohl er im Geistesleben der Weimarer Republik und in Hamburg durchaus eine bedeutende Rolle gespielt hat. Eine Zeit lang wohnte er mit seiner Familie in Groß Borstel, in einer Villa im Lokstedter Damm.
Heinrich Spiero wurde am 24. März 1876 in Königsberg als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Schon als Schüler auf dem Collegium Fridericianum in Königsberg zeigte er sich wissbegierig mit großem Interesse für Literatur. Bereits in seiner Schulzeit legte Spiero den Grundstock zu seiner Bibliothek mit klassischer und zeitgenössischer Literatur, die er im Laufe späterer Jahre auf etwa 30.000 Bände erweiterte.
1893 verlegte die Familie Spiero ihr Domizil von Königsberg nach Berlin und Heinrich Spiero begann hier im Wintersemester 1893/94 ein Studium in den Fächern Germanistische Philologie, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte an der Friederich-Wilhelms-Universität. 1894 wechselte er nach Freiburg, nutze die Gelegenheit zu einer Reise nach Italien und begann im Wintersemester 1894/95 ein Jurastudium. Im September 1894 hatte er sich noch in Berlin-Charlottenburg evangelisch taufen lassen. Nach drei Semestern und einem Studienaufenthalt in Lyon schloss Heinrich Spiero sein Jurastudium mit der Promotion ab.
Nach dem Studium arbeitete Spiero zwei Jahre als Rechtsreferendar an verschiedenen Gerichten in Tangermünde, Berlin und Cottbus, um dann als „Einjähriger-Freiwilliger“ seinen Militärdienst zu absolvieren. 1901 zog Heinrich Spiero mit seiner Frau Olga, die er im Jahr zuvor geheiratet hatte, schließlich nach Hamburg und übernahm die Leitung der hiesigen Filiale des familiären Speditionsunternehmens, das von mehreren deutschen Standorten aus Waren nach und aus Übersee transportierte.
Das Ehepaar Spiero wohnte zunächst in Hamburg-Hohenfelde, wo ihnen ihre Töchter Sabine (1901), Josepha (1903) und Ursula (1906) geboren wurden. 1911 folgte als vierte Tochter Christiane. Inzwischen war die Familie Spiero bereits in Groß Borstel ansässig. 1907 zog Heinrich Spiero mit seiner Familie in eine Villa im Lokstedter Damm 15. Es war die Zeit, in der sich das damals noch auf Hamburger Landgebiet liegende Groß Borstel allmählich zu einem beliebten Vorort wandelte, in dem schon eine Reihe anderer interessanter Leute wohnten. Spiero fühlte sich auch intellektuell in dieser Umgebung wohl und schrieb in seiner Autobiografie „Schicksal und Anteil“ (erschienen 1929): „Groß Borstel entwickelte sich damals zu einer heute zerstobenen Kolonie von Künstlern und Gelehrten“.
Schon vor seinem Umzug nach Groß Borstel war der Kaufmannssohn seinen Neigungen und Interessen gefolgt und hatte den Kontakt zu Hamburger Literaten gesucht und auch gefunden. Den „Hamburger Dichterkreis“ nannte er seine Literaturfreunde. Nur eine Straße weiter, in der Brückwiesenstraße, lebte Otto Falke (1863-1916). Die beiden Familien hatten engen nachbarschaftlichen Kontakt und halfen sich auch in den Dingen des täglichen Lebens.
Ein wichtiger Vertreter der Hamburger Literaten war zudem der 1891 in Altona sesshaft gewordene Detlef von Liliencron (1844-1909). Der ehemalige preußische Offizier wohnte anfangs, obwohl in dritter Ehe verheiratet und Vater zweier Kinder, aus Geldnot alleine in einem möblierten Zimmer in einem Haus an der Palmaille 5, das der Dichterin Elise Rehburg gehörte. Einige Mäzene, darunter Harry Graf Kessler, ermöglichten Liliencron 1901 schließlich die Anmietung eines Einfamilienhauses in Altrahlstedt, in dem er nun auch mit seiner Familie zusammenleben konnte. Heinrich Spiero besuchte ihn dort gelegentlich und umgekehrt war Liliencron gerne zu Gast im Hause der Spieros. Auch in Groß Borstel besuchte Liliencron seinen Freund. Liliencron starb allerdings schon 1909, nur zwei Jahre nach dem Umzug der Spieros in den Lokstedter Damm 15.
Zum engeren Freundeskreis von Detlev von Liliencron zählte Richard Dehmel, mit dem Heinrich Spiero auf diese Weise ebenfalls Bekanntschaft schloss. Dehmel (1863-1920) stammte aus der Nähe von Hirschberg (Schlesien), hatte in Berlin Philosophie, Naturwissenschaften und Nationalökonomie studiert und mit einem Thema zur Versicherungswirtschaft promoviert. Er begann Kinderbücher zu verfassen, veröffentlichte Gedichtbände und gab schließlich seine Arbeit im Versicherungsverband auf. Dehmel erlangte große Bekanntheit, nachdem Gedichte in einem seiner Bände infolge einer Anzeige nachträglich geschwärzt werden mussten. Dehmel hatte dort sinnliche und christliche Motive miteinander verschmolzen, was als anstößig empfunden wurde. Tatsächlich hatte Dehmel eine Vorliebe für erotische Themen und in seinen Versen stellte er die bürgerliche Lebenswelt des späten Kaiserreichs infrage, wobei ihm einige junge Künstler gerne folgten. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg übte Dehmel einen großen Einfluss auf die jüngere Generation von Künstlern aus, darunter auch auf den jungen Thomas Mann. Nicht nur Schriftsteller ließen sich von Dehmels Versen inspirieren. Viele bekannte Komponisten seiner Zeit vertonten gerne Dehmels Verse, so wie Richard Strauss, Jean Sibelius, Arnold Schönberg, Anton Webern, Alma Mahler-Werfel oder auch Kurt Weill.
Richard Dehmel war 1901 mit seiner neuen Lebensgefährtin und dann zweiten Ehefrau Ida Auerbach nach Hamburg gekommen und hatte zunächst eine Wohnung in der Nähe seines Freundes Detlev von Liliencron bezogen. 1912 ließ er sich in Blankenese nieder, in der später nach ihm benannten Richard-Dehmel-Straße 1, und baute sich dort das heute sogenannte „Dehmel-Haus“. Das Haus wurde vor ein paar Jahren von der Reemtsma-Stiftung vor dem Verfall gerettet und dient heute als Museum für das Werk und den Nachlass des Dichters.
Doch nicht nur Dichter wie Richard Dehmel gingen bei Heinrich Spiero im Lokstedter Damm 15 ein und aus. Erfahren Sie in der nächsten Ausgabe des Borsteler Boten mehr über die Geschichte und das Schicksal der Familie Spiero.
André Schulz
Mit bestem Dank an Hannelore und Freimut Leidenberger und an Karola Bürckner, Enkeltochter von Heinrich Spiero, für ihre Unterstützung.