Die Lehrerbausiedlung am Ortleppweg
Wer die Borsteler Chaussee Richtung Flugplatz entlang geht oder fährt und dann links in den Warnckesweg einbiegt, sieht auf der linken Seite das stattliche Stavenhagenhaus, das kulturelle Zentrum von Groß Borstel. Doch es lohnt sich auch einmal den Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite zu richten. Hier befindet sich ein kleiner Park und hinter dessen Büschen und Bäumen etwas versteckt, eine Wohnanlage. Wer sich die Zeit nimmt, hier einmal hineinzugehen, findet sich auf einem sehr gepflegten Gelände einer kleinen Siedlung wieder, die mit ihren großen Grünflächen und Bäumen drumherum fast schon den Charakter eines Sanatorium-Geländes hat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Hamburg durch die Zerstörungen im Krieg und den Zuzug von Flüchtlingen eine erhebliche Wohnungsnot. Der rasche Neubau von Wohnraum war dringend geboten. In dieser Zeit, Anfang der 1950er Jahre, entstanden auch in Groß Borstel eine Reihe von Wohnhäusern und neuen Siedlungen. Die Lehrerbausiedlung zwischen Warnckesweg und Orleppweg war eines dieser Neubauten.
Die Siedlung war ein Bauprojekt der Hamburger Lehrer-Baugenossenschaft. Sie wird auch heute noch von der Genossenschaft betrieben, die 1926 von engagierten Lehrern gegründet worden war, um auch die in den 1920er Jahren große Wohnungsknappheit in Hamburg durch den Neubau von preiswerten Wohnungen zu lindern. Lange wurde von der Genossenschaft nur Wohnungen für Lehrer gebaut. Heute stehen die Wohnungen allen Berufen offen.
1951 erwarb die Lehrer-Baugenossenschaft das Grundstück am Warnckesweg, auf dem sich einst ein Großbauernhof befunden hatte. In einer alten Karte von 1808 findet man den Namen des Dorfvogtes Carl Hinsch als ursprünglichen Besitzer des Grundstücks eingetragen. Am Rand des Grundstücks sind heute noch alte Felssteine zu sehen, die einst den Anfang der Zufahrt in den Hof markiert haben.
Im Zuge der Planungen für den Bau der Wohnanlage wurde 1951 – 1953 ein Geländetausch vorgenommen. Die Stadt Hamburg erhielt längs zum Warnckesweg ein 5600 qm großes Grundstück für einen öffentlichen Park. Die Lehrer-Baugenossenschaft bekam im Tausch das Gelände hinter diesem Grundstück zur Stavenhagenstraße hin mit einer Fläche von 5350 qm. Die Genossenschaft legte zunächst einen Plan für den Bau von 86 Wohnungen auf dem Gelände vor. Der erste Entwurf überstieg jedoch die damals gewünschte Wohndichte. Nach dem neuen Entwurf der Architekten Geert Rechtern und Helmuth Landsmann von 1955 sollten auf dem Grundstück dann drei Wohnhäuser mit 70 Wohnungen in verschiedenen Größen, von Zweizimmer- bis Fünfzimmerwohnungen entstehen.
Die Bauarbeiten begannen im September 1955 und konnten im Juni 1957 abgeschlossen werden. 1958 kamen noch zwei Dachgeschosswohnungen hinzu. Um möglichst viel Licht in den Wohnungen einzufangen, wurden die drei Häuser auf besondere Weise angeordnet. Im Westen steht ein zweigeschossiges Wohnhaus, im Osten ein dreigeschossiges Gebäude. In der Mitte des Grundstückes entstand ein fünfgeschossiges Punkthaus mit zwei Gebäudeflügeln, die aufeinander zulaufen.
Im Zuge des Neubaus der Anlage wurde als kurze Zugangsstraße in die neue Siedlung auch der Ortleppweg angelegt, sinnigerweise nach einem Lehrer benannt. Oscar Ortlepp (1867-1945), in Berlin geboren, war bis zu seiner Pensionierung 1931 im Hamburger Schuldienst beschäftigt und hatte zudem in den 1920er und 1930er Jahren Märchen und Schwänke in niederdeutscher Sprache veröffentlicht.
Die Lehrer-Baugenossenschaft hatte die Wohnungen seinerzeit für ihre Mitglieder geschaffen, die alle Lehrer waren. Viele der Erstbewohner kannten sich aus dem Studium oder aus dem Schuldienst, zogen hier ein und gründeten ihre Familien. In den drei freundlichen und architektonisch großzügig gestalteten Wohnhäusern mit geräumigen lichtdurchfluteten Treppenhäusern und den weitläufigen Grünflächen entwickelte sich eine enge und freundschaftliche Nachbarschaft. 1990 wurde die Siedlung komplett saniert und vermittelt auch über 30 Jahre danach immer noch einen sehr gepflegten Eindruck. 2007 feierte die Gemeinschaft mit einem Fest im Stavenhagenhaus das 50-jährige Bestehen der Siedlung. Zehn der Erstbewohner aus dem Jahr 1957 konnten daran noch teilnehmen.
2014 war die Lehrerbau-Siedlung in Groß Borstel Thema im Mitgliederheft der Genossenschaft, „bei uns“. Bewohner der Siedlung berichteten, dass sie eher zufällig hier gelandet waren und nicht etwa, weil sie gezielt eine Wohnung in Groß Borstel gesucht hätten. In den 1950er Jahren gehörte Groß Borstel nicht unbedingt zu den bekannten und gesuchten Stadtteilen von Hamburg und galt noch bis Mitte der 1980er Jahre als Stadtteil in Hamburger Randlage „im Grünen“. Der dörfliche Charakter, der auch heute noch zu spüren ist, war damals noch ausgeprägter. Für viele Neubewohner war die idyllische Lage der Lehrerbausiedlung in dem parkähnlichen ruhigen Gelände mit vielen Bäumen aber ein überzeugendes Argument hier einzuziehen. Eine alte Esche auf dem Gelände wird sogar auf 200 Jahre geschätzt. In den oberen Stockwerken hat man einen schönen Ausblick auf die nahe gelegene andere Stadteile. In unmittelbarer Nähe der Wohnanlage gibt es keine großen Straßen mit Durchgangsverkehr. Der übrige Straßenlärm wird von den hohen Bäumen geschluckt. Zwei Buslinien bringen die Anwohner schnell in die Innenstadt oder nach Niendorf. Man versteht, dass es in der Lehrerbausiedlung kaum Fluktuation gibt. Wer hier eingezogen ist, fühlt sich wohl und will nicht mehr weg.
Fast 100 Jahre nach der Gründung der Lehrer- Baugenossenschaft hat sich an der Wohnungssituation in Hamburg nichts Grundsätzliches geändert. Wie 1926 und auch wie 1956 werden dringend weitere Wohnungen benötigt. Vor zehn Jahren kam der Begriff der Nachverdichtung in die Diskussion. Da in Hamburg kaum noch Grundstücke für Neubausiedlungen zu finden waren, sollten vorhandene Siedlungen durch zusätzliche Wohnhäuser „verdichtet“ werden. Auch die Lehrerbausiedlung am Ortleppweg kam ins Visier der Stadtplaner. 2012 wurde ein Plan zu einer möglichen Nachverdichtung der Lehrerbausiedlung vorgelegt. Der Entwurf sah den Neubau von zwei zusätzlichen Mietshäusern und eine Aufstockung der vorhandenen Häuser vor. Zur Realisierung hätte man aber einen Großteil der Grünflächen aufgeben müssen, was der Hauptgrund dafür war, dass dieser Plan nicht umgesetzt wurde.
Text und Fotos: André Schulz