EDITORIAL

Liebe Borsteler,

heute ist der 22. März 2020, und es wird Zeit, das Editorial für den April-Boten zu schreiben. Ich habe es von Tag zu Tag verschoben. Weil ich nicht recht wusste, was ich in der Situation sagen soll, die sich täglich, stündlich so verändert, wie wir alle es noch nie erlebt haben.

In allen Medien kommen ununterbrochen die Experten zu Wort – Virologen, Epidemiologen, Vertreter von Ärzteschaft, Krankenhausgesellschaften und Pflegeverbänden. Außerdem Psychologen, Wissenschafts- und Wirtschaftsjournalisten, Unternehmenssprecher und Börsianer. Und natürlich Politiker, die die Rahmenbedingungen für unser Zusammenleben kurzfristig neu justieren und den veränderten Bedingungen anpassen müssen.

Liebe Borsteler, zu allen Sachthemen kann ich nichts Neues beitragen, ganz abgesehen davon wäre mein Wissensstand bei Erscheinen des Boten Anfang April hoffnungslos überholt. Ich kann Ihnen nur erzählen, wie es mir persönlich mit der Coronakrise geht.

Klar, ich möchte mich nicht infizieren. Ja, ich gehöre zur Risikogruppe. Wir halten uns also zurück mit Kontakten und wahren den Abstand zu anderen Menschen. Auch innerhalb der Familie gibt es nur wenige direkte Treffen – auf Distanz – und keine Umarmungen mehr. Das ist sehr schade, aber gerade auch für uns, die dritte Generation, ein Schutz, den wir gerne annehmen.

Trotzdem ist das Gefühl des Zusammenhalts sehr stark. In der Familie, mit Freunden und Bekannten. Immer und überall die Frage: Wie geht es dir, seid ihr gesund? Denn im Umfeld häufen sich die Nachrichten von Menschen, die infiziert sind oder in Quarantäne. Zum Glück gibt es das Telefon, WhatsApp, Skype und E-Mail.

Aber es gibt auch einen anderen Effekt, den ich in dieser Ausnahmesituation, ehrlich gesagt, genieße: Alles ist ruhiger, entspannter, Hektik und Druck sind reduziert, Termine gestrichen. Ich komme mir vor, wie in den sechziger Jahren. Als auf den Straßen der Verkehr ruhig war, wie jetzt. Die Menschen sind beim Einkaufen und unterwegs bedachtsam.

Statt nur ins Handy zu starren und dabei die anderen Menschen nicht im Blick zu haben oder auch gern mal anzurempeln: Jetzt achtet man wieder auf den anderen, allein schon deshalb, um den gesunden Abstand einzuhalten. Wenn ich den anderen nicht wahrnehme und die angemessene Distanz verletze, schade ich mir selbst und gefährde andere.

Es gibt viele Beispiele für die praktische Solidarität mit den Menschen, die zur Risikogruppe gehören oder in Quarantäne leben. Auch auf nebenan.de wird Hilfe angeboten. Lasse Nielsen hat speziell für Groß Borstel ein Hilfsprogramm gestartet (siehe Seite 7). Super!

Und überall ein fürsorgliches:
Bleiben Sie gesund!

Vielleicht ist das anders, wenn man morgens früh schon mit den Klopapier-Hamsterern den nächsten Supermarkt stürmt. Und sicher ist es anders für all diejenigen, die weiterhin zur Arbeit gehen oder an den Kassen in den Geschäften sitzen, die uns mit allem Notwendigen versorgen. Ich weiß, dass für alle Medizin- und Pflegeberufe der absolute Ausnahmezustand herrscht und dort alle völlig am Limit arbeiten. Diese Menschen und alle, die die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur am Laufen halten, tragen die ganze Last dieser Krise. Großen Dank und Respekt für sie!

Wir haben bisher eine weltweite Gesellschaft, in der nur zählt, was und wer effizient und wirtschaftlich erfolgreich ist. Eine Gesellschaft, die nur funktioniert, wenn immerzu noch mehr Wachstum generiert wird. Corona zeigt, wie fragil unser globales Wirtschaftssystem ist, wie innerhalb von ein paar Wochen fast alles kollabiert und zum Stillstand kommt. Corona ist eine weltweite, kollektive Krise. Jeder ist betroffen, für keinen gibt es ein individuelles Entkommen – aber keiner ist persönlich „schuld“, wenn er gesundheitlich oder wirtschaftlich durch das Virus Schaden erleidet.

Ich würde mir wünschen, dass von dieser Einsicht und diesem Gefühl etwas dauerhaft bleibt. Dass wir dauerhaft solidarisch und wertschätzend miteinander umgehen und mit einer gesunden, wohlwollenden Distanz den anderen in seiner Eigenart und Einzigartigkeit wahrnehmen. Und wieder wissen: Wir brauchen einander. Wir sind nicht unangreifbar. Wir sind alle miteinander verbunden.

In diesem Sinne: Bleiben Sie gesund!

Herzlich Ihre Ulrike Zeising