HÄUSER, DIE GESCHICHTE ERZÄHLEN
EIN GARTEN FÜR KINDER
In Groß Borstel gab es einst eine Reihe größerer Parks und Gärten, von deren Existenz man noch etwa ahnt, wenn man die vielen großen alten Bäume beachtet, die überall im Ort zu finden sind. Die ältesten dieser Bäume wurden um 1770 gepflanzt, also ungefähr zu der Zeit, als Johann Wolfgang von Goethe „Die Leiden des jungen Werthers“ schrieb oder, wenn man auf Hamburg schauen möchte, als Matthias Claudius der Herausgeber des Wandsbecker Bothen wurde. Die Parks sind inzwischen größtenteils von der Bebauung der wachsenden Stadt Hamburg verschluckt worden, aber einige Reste gibt es noch. Einer dieser verbliebenen Parks wird denkbar gut genutzt – als Kindergarten.
Die Kita am Brödermannsweg befindet sich auf einem etwa 10 000 Quadratmeter großen Grundstück, das sich zwischen Holunderweg, Schrödersweg, Borsteler Chaussee und dem Brödermannsweg erstreckt. Heute besteht die Anlage der Kita aus sechs Häusern, die das großzügige Areal in einem rechteckigen Bogen umfassen. Das älteste Haus stammt aus den 1920er Jahren und steht vorne am Brödermannsweg.
1937, als das Kindertagesheim gegründet wurde, kamen nach dem Entwurf des Architekten Dr. Ing. Max Zoder zwei weitere Häuser hinzu. 1999 wurde ein alter Pavillon abgerissen und durch zwei zusätzliche Gebäude ersetzt. Die Architektinnen Diers und Lehmann vom Büro Lehmann und Partner achteten bei ihrem Entwurf darauf, dass die neuen Häuser sich in ihrem Stil dem vorhandenen Ensemble aus den 1930er Jahren harmonisch anpassten: schlichte eingeschossige Backsteinhäuser, nur mit einem Erdgeschoss, das Satteldach durch freundliche Fensterreihen aufgelockert.
2005 wurde die Anlage um ein zusätzliches Gebäude erweitert. Auf dem Gelände befindet sich zudem noch ein ungenutzter Bunker, inzwischen überwachsen. Der Bunker entstand 1940, als man plante, das Kindertagesheim zu einem Kinder-Vollheim auszubauen. Der Plan konnte im Krieg aber nicht mehr realisiert werden.
An der Stelle der heutigen Kita, nicht weit vom Ufer der Tarpenbek entfernt, befand sich ursprünglich einmal auf sumpfigem Gelände ein „Kohlgarten“. Johann Nikolaus Frey, der Mitte des 18. Jahrhunderts einige Grundstücke in Groß Borstel erwarb – auch dieses – entwässerte das Gelände und pflanzte Bäume an. 1771 kaufte der Schiffsmakler Johann Hinrich Brödermann das Grundstück und setzte die Arbeit des Vorbesitzers fort. 1777 baute Brödermann sich auf dem Gelände ein Herrenhaus aus Backstein. Nach seinem Tod ging das Grundstück durch verschiedene Hände und kam 1865 in den Besitz des Landgerichtsdirektor Dr. Daniel Heinrich Jacobj. Dieser erbaute für sich und seine große Familie mit zwölf Kindern aus zwei Ehen neben dem Brödermannschen Haus eine große Villa.
Der heutige Brödermannsweg hieß damals allerdings noch Schulweg und wurde erst 1925 umbenannt. Jacobj verschönerte den Park, in dessen Mitte sich ein großer Teich befand, und nutzte ihn für öffentliche und private Feste. 1914 erwarb der Kaufmann August Herbst – inzwischen Besitzer des Frustberges mit dem heute so genannten Stavenhagenhaus – das Grundstück für seine Tochter Gertrud und seinen Schwiegersohn Hermann Wröndel. Wröndel führte eine Bank am Neuen Wall.
Ende der 1920er Jahre wurde dann die Stadt Hamburg in Groß Borstel aktiv. Die wachsende Stadt benötigte neuen Wohnraum, und der dörfliche Stadtteil am Stadtrand war damals noch wenig bebaut.
Der Hamburger Oberbaudirektor Prof. Dr. Fritz Schumacher hatte Groß Borstel zudem als Ort für seine geplante „akademische Stadt“ auserkoren. Schumacher wollte die 1919 gegründete Hamburger Universität aus der Innenstadt an den Rand verlegen und hier einen Campus nach anglo-amerikanischem Vorbild anlegen (s. Borsteler Bote, September 2020). Die Stadt kaufte also für die geplanten Universitätsgebäude und für den Wohnungsbau Grundstücke auf.
Auch eine eigene Groß Borsteler Kirche war geplant. Bis dahin wurden die Bürger des Ortes seelsorgerisch noch von der Kirchengemeinde St. Johannis in Eppendorf versorgt. 1928 verkaufte auch Hermann Wröndel sein Grundstück am Brödermannsweg an die Stadt. Er war mit seiner Bank in finanzielle Schieflage geraten und brauchte Geld.
Inzwischen hatten die Groß Borsteler Bürger, zumeist noch Bauern, von den einschneidenden Bauplänen der Baubehörde in ihrem Ort erfahren und wandten sich über den Kommunalverein dagegen. Es gab tatsächlich einige verrückte Vorschläge für die Bebauung des Parks am Brödermannsweg, zum Beispiel elfstöckige Hochhäuser.
Die Aktivitäten und Pläne der Stadt riefen Investoren und Spekulanten auf den Plan. Die Grundstückspreise stiegen. Die Stadt blockierte konkurrierende Bauvorhaben. Die Diskussion um die Bebauung des Parks dauerte an, ohne dass es zu einer einvernehmlichen Lösung kam. 1929 hatte dann die Weltwirtschaftskrise Deutschland und Hamburg erreicht. Für die Bebauungspläne in Groß Borstel fehlte nun das Geld.
Nur die kleine Högerkirche, die „kleinste Kirche Hamburgs“ und das Pastorat wurden an der Borsteler Chaussee noch gebaut. Die Högerkirche dient der Gemeinde St. Peter heute als Kindergarten.
1933 hatte die NSDAP die Macht übernommen und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verschiedene Arbeitsprogramme ins Leben gerufen, unter anderem durch den Ausbau der Rüstungsindustrie. Auch in Groß Borstel wurde 1937 ein Betrieb der Rüstungsindustrie angesiedelt, die Hamburger Metallverarbeitung mbH, eine Zweigniederlassung der Vereinigten Deutschen Metallwerke (VDM) Frankfurt. Das Werk stellte verstellbare Luftschrauben und die dazugehörigen Getriebe und Regler her. Die Fabrik befand sich bis 1943 auf dem Gewerbegelände an der Borsteler Chaussee / Ecke Brödermannsweg, dann wurde sie nach Leipzig verlegt. Für die Arbeiter des Werks baute man Wohnsiedlungen am Brödermannsweg und am Geesmoor.
Zum Entwicklungsprojekt gehörte 1937 außerdem der Bau eines Mütter-, Säuglings- und Kinderheim auf dem Grundstück des Jacobj-Parks, die heutige Kita am Brödermannsweg 40. An der Finanzierung war damals die Hamburger Firma Beiersdorf mit Spenden maßgeblich beteiligt.
Im Zweiten Weltkrieg hat es einige Bombenangriffe auf die Propellerfabrik gegeben, die aber nie getroffen wurde. Stattdessen wurden in Groß Borstel aber etwa 100 Wohnungen zerstört. Auch auf dem Gelände der Kita gingen Sprengkörper nieder. An einem der Häuser kann man heute noch Ausbesserungen an einer Außenwand erkennen, wahrscheinlich um einen Brandschaden zu reparieren. Und bei den Ausschachtarbeiten für die Neubauten wurde seinerzeit eine Stabbrandbombe gefunden. Vermutlich war die Kita ab 1940 im Zuge der „Kinderlandverschickung“ evakuiert, die Häuser wurden möglicherweise als Lazarett genutzt. Aufzeichnungen aus dieser Zeit gibt es aber keine.
Die so idyllisch gelegene Kita am Brödermannsweg ist ganzjährig und täglich von 6 bis 18 Uhr (freitags bis 17 Uhr) geöffnet. Unter der Leitung von Gabriella Paschke kümmern sich über 40 Mitarbeiter um etwa 190 Kinder im Alter von wenigen Wochen bis 6 Jahren. Einer der Mitarbeiter ist hier seit 26 Jahren beschäftigt und weiß viel aus der Geschichte des Hauses zu erzählen.
Kittel, Schürzen und Töpfchen verschwanden im Laufe der Zeit, und auch den früher obligatorischen Mittagsschlaf für alle Kinder gibt es nicht mehr. Insgesamt ist die Atmosphäre viel lockerer geworden, und die Bedürfnisse der Kinder und ihre Individualität stehen heute im Mittelpunkt. Mit den Jahren veränderte sich der Anspruch an die pädagogische Arbeit.
Während es in den 80er und 90er Jahren immer mal wieder Einsparmaßnahmen gab, hat man heute erkannt, dass es vieler qualifizierter Mitarbeiter bedarf, um den Bedürfnissen der Kinder Rechnung zu tragen.
Kinder aus vielen Nationen leben und lernen in offenen, altersgemischten Gruppen, in denen auch Kinder mit einem besonderen Förderbedarf ihren Platz finden. Das Außengelände bietet auf viele Weise Möglichkeiten zur Bewegung und zur Begegnung mit der Natur, in die die Kita in dem alten Park so wunderbar eingebettet ist. Wer heute die Kita besucht, sieht Kinder verschiedenen Alters bei gutem Wetter fröhlich auf den Spielplätzen spielen oder auf der Wiese tollen.
Träger der Kita Brödermannsweg ist heute die gemeinnützige städtische Elbkinder gGmbH. Schon 1911 als „Ausschuss für Säuglings- und Kleinkinderanstalten“ gegründet, aber erst 1919 offiziell als Verein eingetragen, feierten die „Elbkinder“ 2019 ihren 100. Geburtstag.
André Schulz