HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN
Krüss – Start-Up mit Geschichte
Wer die Borsteler Chaussee entlang fährt, wird vielleicht nicht auf die Idee kommen, dass sich hier ein bedeutender Industriestandort befindet. Aber so ist es. Auf dem Gewerbegebiet zwischen dem Alphapark und der Sportanlage am Brödermannsweg hat die Krüss GmbH ihren Firmensitz.
Von Groß Borstel aus vertreibt das Unternehmen ihre Produkte in die ganze Welt und ist sogar Weltmarktführer. Zu ihren Kunden gehören beispielsweise Apple, Airbus, die NASA, Siemens, Automobilfirmen, Hersteller aus der Medizintechnik, Lebensmittelfirmen wie Nestlé oder auch Betriebe, die Verpackungsmaterial herstellen. Was macht alle diese Unternehmen zu Kunden der Groß Borsteler Firma? Es sind die Oberflächen ihrer Produkte. Die Krüss GmbH ist der weltweit führende Hersteller für Tensiometer – Geräte zur Messung von Oberflächeneigenschaften.
Die Räume der Firma sind in einem großen Gebäude an der Borsteler Chaussee 85 untergebracht. Das Haus wurde in den 1930er-Jahren errichtet und damals von einem Hamburger Ableger der VDM genutzt. Die Vereinigten Deutschen Metallwerke stellten hier bis 1943 Propeller her. Nach dem großen Luftangriff auf Hamburg 1943 wurden die VDM verlegt. Heute weist nichts mehr auf die einstige Nutzung des Hauses hin, und das Backsteingebäude sieht für sein Alter noch sehr frisch aus. Der kleine Eingang an der Spitze des Gebäudes lässt nicht unbedingt ahnen, wie groß die Firma ist. Nach bescheidenen Anfängen belegt die Krüss GmbH inzwischen den gesamten ersten Stock des nicht eben kleinen Hauses und hat im Erdgeschoss eine größere Halle für sich vereinnahmt.
„Wir sind eigentlich ein Start-up“, erläutert Florian Weser augenzwinkernd, der Geschäftsführer der Krüss GmbH, ein noch recht junger „Industriekapitän“. Florian Weser spielt mit seiner Aussage auf die starke Expansion seiner Firma in den letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der Oberflächenmesstechnik an. Doch das ist nur ein Aspekt der Firmengeschichte, denn Krüss wurde schon 1796 gegründet und ist damit eine der ältesten Firmen in Hamburg, mit dem Geschäftsführer Florian Weser in der achten Generation.
Ursprünglich war Krüss auf die Entwicklung von optischen Instrumenten spezialisiert. Zu den erfolgreichen Patenten der Firma gehörte unter anderem die 1865 vorgestellte „Laterna magica“. Prof. Dr. Hugo Krüss, der die Firma von 1888 bis 1920 leitete, war nicht nur ein führender Wissenschaftler auf dem Gebiet der Fotometrie. Als Vorsitzender der Hamburger Gesellschaft für Feinmechanik und Optik war er auch ein wichtiger Förderer dieser Industriezweige und spielte im Hamburger Wirtschaftsleben eine wichtige Rolle.
1920 übernahm sein Sohn Dr. Paul Krüss die Leitung der Firma. Mit ihm tritt der Hamburger Ortsteil Groß Borstel in die Geschichte der Firma ein. Die Firma hatte ihren Standort lange in der Gertigstraße in Barmbek, aber Paul Krüss und seine Familie fanden ihr Zuhause in Groß Borstel, und er beteiligte sich an den Geschicken hier im Ort, zum Beispiel als Schatzmeister des Kommunalvereins.
Von Paul Krüss ging die Leitung der Firma auf seinen Sohn Andreas Krüss über. Dieser vererbte das Unternehmen zu gleichen Teilen seinen beiden Töchtern Marianne Weser und Martina Krüss-Leibrock. Marianne Wesers Ehemann Cornelius Weser kam als Ingenieur aus der Flugzeugtechnik und wollte den vielversprechenden Produktzweig der Tensiometer weiter ausbauen. Über die Frage, welche Richtung die Firma nehmen und wer sie leiten sollte, entschied man, das Unternehmen zu teilen und zwei unabhängig operierende Firmen mit dem Namen Krüss zu schaffen.
Tatsächlich gibt es also in ziemlicher Nähe zur Krüss GmbH eine weitere Firma, die den Namen Krüss führt, die Krüss Optronic GmbH. Diese hat ihren Sitz nur ein paar Straßen weiter – in der Alsterdorfer Straße – und ist auf dem Gebiet optischer Labormessgeräte ebenfalls weltweit sehr erfolgreich unterwegs.
Auch die Krüss Optronic GmbH ist weiterhin im Familienbesitz und wird, ebenfalls in der achten Generation, von Karin Leibrock und ihrem Ehemann Thomas Schmauck geleitet.
Die Anfänge nach der Aufteilung 1980 waren für die Krüss Optronic GmbH nicht einfach, erinnerte sich Martina Krüss-Leibrock. Sie hat die Geschäftsleitung vor einiger Zeit an ihre Tochter übergeben, besucht aber noch regelmäßig ihr Büro in dem schicken Firmengebäude in der Alsterdorfer Straße.
Zum Teil machten die beiden Krüss-Firmen sich nach der Trennung mit einigen Produkten gegenseitig Konkurrenz. Die Krüss Optronic übernahm dann aber gegen Ablöse den Fertigungsbereich für Refraktometer. Diese Instrumente messen über die Bestimmung des Brechungsindexes von transparenten Stoffen die darin gelösten Elemente. Refraktometer kommen zum Beispiel bei der Honigproduktion zum Einsatz, um den Wassergehalt zu messen. Winzer verwenden Refraktometer, um den Zuckergehalt im Weinmost zu bestimmen. Es gibt unzählige weitere Anwendungsgebiete.
Martina Krüss-Leibrock reiste schon früh viel in der Welt herum, knüpfte zahlreiche Geschäftskontakte, darunter in China, und erweiterte sukzessive die Produktpalette. Inzwischen produziert die Krüss Optronic eine Vielzahl verschiedener optischer Präzisionsgeräte, wie Flammenfotometer, Polarimeter und Dichtemessgeräte. Ihre Polariskope finden in der Gemmologie, der Edelsteinkunde, Anwendung. Wer sich für Optik und Physik interessiert, dem bietet die Webseite der Firma (www.kruess.com) nicht nur eine Übersicht über die Instrumente, sondern auch noch ausführliche Anleitungen, auf welchen optischen Prinzipien diese funktionieren.
„Eine der Stärken unserer Instrumente ist die einheitliche Benutzerführung“, erklärt Geschäftsführerin Karin Leibrock. Wie ihr Cousin Florian Weser ist sie eine junge Firmenchefin. Die Alsterdorfer Firma bietet ihren Kunden Schulungen zur Bedienung und Wartung der Instrumente an und hat normalerweise regelmäßig internationale Gäste im Haus.
Nicht minder interessant sind die Geräte der Krüss GmbH in Groß Borstel. Der französische Biochemiker und Philosoph Pierre Lecomte du Noüy hatte 1919 als Erster ein Messgerät zur Messung von Oberflächenspannungen bei Flüssigkeiten entwickelt. Bei seiner Methode wird ein metallener Ring in eine Flüssigkeit leicht eingetaucht, und dann wird gemessen, wann beim langsamen Hochziehen des Rings der Flüssigkeitsfilm am Metall abreißt.
In späteren Jahren wurde eine Reihe von weiteren Messmethoden auch für andere Arten von Oberflächen entwickelt, die alle sehr präzise Messinstrumente erfordern. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg begann Krüss mit der Fertigung von Tensiometern. Nachdem Cornelius Weser die Geschäftsleitung der Krüss GmbH übernommen hatte, baute er diese Sparte immer weiter aus und verbesserte die Messgeräte in Methode, Bedienung und Genauigkeit.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der Computertechnlogie wurden auch die Tensiometer von Krüss digital, und dank ausgezeichneter Fertigungstechnik fanden die Instrumente weltweit immer mehr Abnehmer. Zum Angebot der Krüss GmbH gehören inzwischen Instrumente zur Schaumanalyse, Grenzflächenrheologie sowie Kontaktwinkelmessinstrumente, mit denen die Benetzbarkeit fester Stoffe durch Flüssigkeiten untersucht wird. Auch in Groß Borstel setzt man bei den Geräten auf einheitliche Software und bietet Schulungen und Lehrgänge an. Wer die Webseite kruss-scientific.com besucht, dem öffnet sich ein völlig neues Reich der Messtechnik.
Wann immer in dem großen Gebäude an der Borsteler Chaussee Räume frei wurden, mietete die Krüss GmbH sie an. Inzwischen hat die Firma über 160 Mitarbeiter, die meisten arbeiten hier in Groß Borstel und sind auf ganz unterschiedlichen Gebieten unterwegs, als Ingenieure, Elektrotechniker, Software-Entwickler und vieles mehr.
Die Krüss GmbH stellt alle Bestandteile ihrer Instrumente selbst her und hat zu diesem Zweck eine mächtige Maschine angeschafft, die eindrucksvoll die Optik der Fertigungshalle im Erdgeschoss beherrscht. Die Halle ist dabei so sauber wie ein OP-Saal. In der Mitte steht die Anlage, ein großer heller Kasten, der in seinem Inneren mit einer Vielzahl von auswechselbaren Werkzeugen computergesteuert die gewünschten Bauteile produziert.
Beide Unternehmen, die Krüss GmbH in Groß Borstel und die Krüss Optronic GmbH in Alsterdorf, wurden für ihre Produkte als Innovationsführer des Mittelstandes ausgezeichnet. Sie blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Diese begann mit einem Optiker mit Migrationshintergrund und einem Schmuggler. Davon mehr im nächsten Heft.
André Schulz