Häuser, die Geschichten erzählen: Die Töchterhäuser
Das Dorf Groß Borstel, außerhalb der Hamburger Stadtmauern auf Hamburger Landgebiet gelegen, behielt noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts seinen dörflichen Charakter. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts hatte das Dorf zwischen Alster und Tarpenbek allerdings das Interesse von wohlhabenden Hamburger Bürgern geweckt. Sie kauften den Borsteler Bauern Grundstücke ab und errichteten sich hier Sommerlandsitze mit Gärten darum herum. Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte dann die fortschreitende Industrialisierung auch Groß Borstel.
Der größte Teil der Äcker und Wiesen in und um Groß Borstel gehörte vier Bauernfamilien, die jeweils über 100 Scheffel (ein Scheffel = 4.200 qm) Land besaßen und als sogenannte „Vollhufner“ galten. Zu den Groß Borsteler Vollhufnern gehörte die Familie Mähl mit zwei Höfen, der Bauer H.F. Krohn, der Bauer J.H. Remstedt und der Bauer P. Hinsch. Sie besaßen Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mehr als die Hälfte des zu Groß Borstel gehörenden Landes. Ab 1846 siedelten sich am Rande der Tarpenbek einige Gewerbebetriebe an. Gleich am Mühlenteich, der damals noch bis Groß Borstel reichte, wurde eine Nickelfabrik errichtet. Daran anschließend entstand eine Textilfabrik, später wurde daraus die Lederfabrik Velten. Die Wiesen an der Tarpenbek gehörten ursprünglich den Vollhufnern Peter Mähl und Peter Hinsch. Letzterer war Mitte des 19. Jahrhunderts zugleich auch der Dorfvogt von Groß Borstel, also der Bürgermeister der Gemeinde.
Die Gewerbebetriebe entstanden entlang der Borsteler Chaussee, die noch bis 1828 nichts anderes als ein besserer Feldweg war und vom Spreenende nur bis ungefähr auf Höhe des heutigen Brödermannsweg reichte. 1828 wurde der Weg, ab 1864 Borsteler Chaussee genannt, mit Steinen befestigt und durch Zuschütten des Moores bis zum Rosenbrook verlängert. In Richtung Norden machte die Borsteler Chaussee auf Höhe der heutigen Kreuzung zum Warnckesweg einen Knick, erst nach links, dann nach rechts, und verlief dort, wo sich heute der Borsteler Bogen befindet. 1968 wurde die Borsteler Chaussee allerdings verbreitert und nun auf geradem Weg bis zum Spreenende verlängert. Zu dieser Zeit verschwand auch die Straßenbahn, die mit der berühmten Linie 18 Groß Borstel mit der Hamburger Innenstadt verbunden hatte. Das ehemalige Teilstück der Borsteler Chaussee erhielt im Zuge dieses Straßenausbaus den Namen Borsteler Bogen. Dieser ist nun das Verbindungsstück zur Stavenhagenstraße, benannt nach dem Mundartdichter Fritz Stavenhagen (1876-1906), der in dieser Straße in einem kleinen Zimmer zur Untermiete gewohnt hat. Als Stavenhagen hier lebte, hieß die Straße allerdings noch Königsstraße (seit 1864), und sie wurde erst 1925 zu Ehren des früh verstorbenen Dichters umbenannt.
Nun sind wir auf unserer kleinen geografischen und historischen Reise am Ziel angekommen, bei den vier „Töchterhäusern“. Bauer Hinsch, wahrscheinlich der Sohn des ehemaligen Dorfvogts und immer noch einer der größten Grundbesitzer im Ort, wollte seinen Landbesitz seinem Sohn vererben. Er hatte außerdem aber noch vier Töchter, die ebenfalls bedacht werden sollten. Für jede seiner Töchter erbaute er auf einer Parzelle seines Landes in der damaligen Königsstraße ein Haus im Stil der damaligen Zeit, im Jugendstil. Das war im Jahr 1902. Die vier nebeneinanderstehenden zierlichen zweistöckigen Häuser, umgeben von Gärten, ähnelten einander, waren aber nicht völlig baugleich. Zur Straße hin haben sie einen Erker, darüber befindet sich ein Balkon. Jedes der Häuser wurde ursprünglich in heller Pastellfarbe angestrichen. Die Häuser waren als Anlageobjekte gedacht, die Töchter von Bauer Hinsch haben dort nie selbst gewohnt, sondern die Häuser vermietet.
Gegenüber von den Grundstücken befand sich Petersens Park, der aber 1902 als Sommersitz schon aufgegeben war. 1906 verkaufte Leopold von Abercron den Park an den Tierhändler August Fockelmann, der hier einen Tierpark einrichtete. Bis in die 1930er-Jahre konnten Groß Borsteler hier unter anderem Vögel, Affen, aber auch Kamele oder Leoparden anschauen. Die Bewohner der Töchterhäuser wurden vermutlich jeden Morgen von einer tierischen Geräuschkulisse geweckt.
Im Laufe der Jahre wechselten einige der Häuser ihre Besitzer, wurden umgebaut und wieder restauriert. In einem der Häuser wohnt seit Jahrzehnten die Groß Borsteler Schriftstellerin Antje Thietz-Bartram. In ihrem Essay „Die Vermieterin“, zuerst erschienen im Sammelband „denk (sic) ich an Hamburg. Geschichten von gestern und heute“, erzählt sie, wie sie mit ihrem Mann das Haus erst mieten und dann kaufen konnte. Die Besitzerin dieses Hauses war Alice Hinsch, verheiratete Thun. Frau Alice Thun war die dritte Tochter des Bauern Hinsch, etwa 1885 geboren, und hatte deshalb auch das dritte Haus in der Viererreihe bekommen. Sie wohnte mit ihrem Mann, einem Tierarzt, in Blankenese. 1968 zog die Familie Thietz in die Villa in der Stavenhagenstraße ein und unterhielt zu ihrer Vermieterin, aber auch zu deren Haushälterin Marianne Schulze, ein freundschaftliches Verhältnis. Als Alice Thun Ende der Siebzigerjahre starb, vererbte sie das Haus in der Stavenhagenstraße ihrer Haushälterin zum Dank für die langjährige Fürsorge und Pflege. Marianne Schulze verkaufte das Haus später weiter an Familie Thietz.
Wer heute die Stavenhagenstraße entlang spaziert, kann noch drei der vier Jugendstilhäuser bewundern. Das erste Haus in der Nähe der nach dem Zweiten Weltkrieg erbauten Plogstiegsiedlung wurde 1943 bei einem Bombenangriff schwer beschädigt und musste abgerissen werden.
Text und Fotos von André Schulz