HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN: WOLTERSSTRASSE 20
DAS HAUS, DAS IN DIE ERDE MUSS
Auf der alten Straßenkarte von Hamburg und Umgebung aus dem Jahr 1885 kann man die Woltersstraße noch nicht finden. Das Gelände zwischen Borsteler Chaussee und dem Moorweg war damals noch „grüne Wiese“ und gehörte dem aus Braunschweig stammenden Heinrich Gottlieb Ludwig Elias Wolters (1840–1917). Er war der Ortsvorsteher von Groß Borstel, und das Dorf war noch Teil der „Landherrenschaft der Geestlande“ – ein 1830 gebildeter Verwaltungsbezirk des Hamburger Landgebietes. Zur Stadt Hamburg eingemeindet wurde Groß Borstel erst 1913.
Da war die Woltersstraße allerdings schon angelegt, und die ersten Häuser standen bereits. Zu den älteren Gebäuden gehört das Haus Nr. 18/20 – ein größeres Mehrfamiliendoppelhaus, 1910 erbaut. Zwischen dem Haus Nr. 20 und dem Haus Nr. 22 war ursprünglich auch einmal eine Verbindungsstraße zur Borsteler Chaussee geplant, doch diese wurde nie realisiert.
Das Haus Nr. 18 wurde von Gustav Möller gebaut. Seine Tochter Erna heiratete Henry Albers, der Dozent und Professor für Chemie wurde und in Hamburg, Stockholm, Hannover und Danzig lehrte. Nach dem Ersten Weltkrieg ging er nach Mainz. Das Haus befindet sich auch heute noch im Besitz der Familie Albers.
Die andere Hälfte des Hauses, die Nr. 20, kaufte 1920 Wilhelm Nölting. Sein Teil des Gebäudes enthielt zwei Wohnungen. Im Erdgeschoss wohnte Wilhelm Nölting mit seiner Frau Elisa und seiner Tochter Elsa. Im Obergeschoss befanden sich Zimmer für Dienstboten.
Wilhelm Nölting, am 3. November 1871 in Stade geboren, war ein Heimkehrer. Als 21-Jähriger war er ebenso wie seine Schwester in die USA ausgewandert. Seine Schwester blieb dort, er aber kehrte wohl etwas desillusioniert von der Lebensweise in der „Neuen Welt“ nach Deutschland zurück und verschaffte sich mit der Gründung einer Druckerei in Hamburg eine Existenzgrundlage. Die Firma entstand 1902 und hatte ihren ersten Sitz an prominenter Stelle, in den Großen Bleichen. In späteren Jahren zog sie in die Hasselbrockstraße 35 um. Der Betrieb lief gut, und so konnte Nölting das stattliche Haus in der Groß Borsteler Woltersstraße 20 erwerben.
Gegen Ende der 1920er-Jahre fasste Wilhelm Nölting, inzwischen fast 60 Jahre alt, den Entschluss, seine Erlebnisse, die er als junger Mann in den USA hatte, zu Papier zu bringen. Seine Erinnerungen konnte er praktischerweise in der eigenen Druckerei drucken.
Unter dem Pseudonym „Jack Omaha“ veröffentlichte Nölting 1927 die Erzählung „Wilde Fahrten im wilden Westen. Mit Gaunern, Gauklern und Rothäuten unterwegs“. 1933 folgte „Himmel und Hölle Amerika. Neue Fahrten im wilden Westen.“
Seine Erzählungen kamen bei der Kritik und dem Publikum gut an, und so veröffentlichte er 1939, diesmal unter eigenem Namen, auch noch einen Kriminalroman mit dem Titel „Nachts in London“ (1939). Der letzte Titel wurde allerdings 1940 von den Nationalsozialisten wegen „Verherrlichung eines Kriegsfeindes“ verboten.
Als Wilhelm Nölting sich in „Jack Omaha“ verwandelte, hatte er die Leitung seiner Druckerei schon in jüngere Hände übergeben. Seine Nachfolgerin wurde seine Tochter Elsa. Diese hatte Walter Böckmann geheiratet, der zusammen mit seinem Bruder Max ebenfalls eine Druckerei führte, die von seinem Vater 1891 begründete „Gebr. Böckmann Druckerei“ in der Pastorenstraße 16/18, in der Nähe von St. Michaelis. Auch nach der Heirat wurden beide Druckereien noch lange als eigene Firmen weiter betrieben.
Wilhelm Nölting starb 1940 an einem Schlaganfall und musste so nicht mehr miterleben, wie sein Haus in der Woltersstraße 20 im Krieg in Flammen aufging. Das Haus war bei verschiedenen Luftangriffen auf Hamburg schon beschädigt worden. Beim großen Luftangriff im Sommer 1943, der „Operation Gomorrha“, überflog ein vom Abwehrfeuer getroffener Bomber Groß Borstel, stürzte brennend in Schnelsen ab und befreite sich auf seinem Weg in einem „Notabwurf“ noch von allen seinen Bomben.
Eine Stabbrandbombe fiel auf das Grundstück der Nöltings, geriet als Querschläger in das Haus und setzte es in Brand. Decken und Böden brannten aus, nur die Außenmauern blieben stehen.
Während das Haus brannte, sägten die Bewohner im Nachbarhaus Nr. 18 auf dem Dachboden mit einer Handsäge unter Einsatz ihres Lebens die glimmenden Dachbalken durch, um einen Übergriff des Feuers auf ihren Teil des Hauses zu verhindern – mit Erfolg.
Die Familie Nölting-Böckmann war nicht nur durch ihren Wohnsitz in der Woltersstraße mit den Geschicken in Groß Borstel verbunden. Als der Kommunalverein im Jahr 1919 – ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – seinen 30. Geburtstag beging, war angesichts der überall noch herrschenden Not niemand so recht nach einer großen Feier zumute. Aber man beschloss die Herausgabe eines Mitteilungsblattes.
Der Groß Borsteler Bote wurde aus der Taufe gehoben. In den ersten zehn Jahren wurde das Blatt bei der Firma Bitter & Sohn gedruckt. Der Inhaber Karl Wanser war ein Mitglied des Kommunalvereins. Wer nach seinem Tod 1929 und der Schließung seiner Druckerei die Aufgabe übernahm, ist nicht bekannt. Vielleicht sprang hier schon die Druckerei Wilhelm Nölting in die Bresche.
1934 war allerdings erst einmal Schluss mit dem Borsteler Boten. Nach der Machtübernahme der NSDAP war selbst für so ein kleines unabhängiges Blatt kein Bedarf. Bald danach kam auch die Arbeit des Kommunalvereins zum Stillstand.
Es dauerte einige Zeit, bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das gesellschaftliche Leben wieder in Gang kam. Auch der Kommunalverein erwachte wieder und beschloss 1949 die Fortführung des Borsteler Boten. Die erste Nachkriegsausgabe lag im Januar 1950 auf dem Tisch. Gedruckt wurde sie von der Gebrüder Böckmann Druckerei, zu dieser Zeit noch von Walter Böckmann geleitet. Später übernahm sein Sohn Hartmut Böckmann (Jg. 1934) den Betrieb. Das im Krieg zerstörte Böckmann’sche Haus wurde 1950 ebenfalls wieder aufgebaut, die Fassade wiederhergestellt und restauriert.
Im zu großen Teilen zerstörten Hamburg herrschte noch große Wohnungsnot, und so wurde das halbe Haus Nr. 20 statt mit zwei, mit sechs Wohneinheiten aufgebaut. Wilhelm Nöltings Witwe Elise erhielt für den Wiederaufbau von der Stadt Hamburg ein Darlehen von 29.000 D-Mark. Die Familie Böckmann bewohnte selbst eine Wohnung, die übrigen fünf Wohnungen wurden vermietet. Nach dem Tod seiner Mutter Elsa wohnte Hartmut Böckmann mit seiner Familie in dem Haus.
1980 wurden die Gebr. Böckmann Druckerei und die Nölting Druckerei als W. Nölting Druckerei zusammengeführt. Ein Teil der alten Druckmaschinen landete im Museum der Arbeit, wo man sie heute noch besichtigen kann. Hartmut Böckmann führte die W. Nölting Druckerei weiter und druckte dort noch bis ins Jahr 2000 den Borsteler Boten, insgesamt also ein halbes Jahrhundert lang. Dann setzte er sich zur Ruhe. Die Druckerei wurde geschlossen, da sein Sohn kein Interesse am Druckhandwerk hatte.
Im Jahr 2016 starb Hartmut Böckmann und vererbte sein Haus seinem Sohn Torsten Böckmann, der als Diplom-Ingenieur auch in Groß Borstel lebt. Die Begutachtung der Wohnungen im Böckmann’schen Gebäudeteil war einigermaßen ernüchternd, denn die Wohnungen waren in keinem zeitgemäßen Zustand.
Torsten Böckmann und seine Frau Ursula beschlossen, das Haus neu zu bauen. Auch jetzt benötigt die schnell wachsende Stadt Hamburg wieder dringend zusätzlichen Wohnraum, dachten die Böckmanns, und durch geschickte Raumaufteilung sollten im Haus nun sieben anstelle von sechs Wohneinheiten entstehen. Ein Architekt machte einen entsprechenden Entwurf. Torsten Böckmann stellte einen Bauantrag beim Bauamt im Bezirksamt Nord.
Dies war die Vorgeschichte. Ein neues Kapitel beginnt (im nächsten Heft).
André Schulz