Lederfabrik Velten
Es ist nun schon mehr als 10 Jahre her, seit sich die Gemüter in Groß Borstel über den riesigen Neubaukomplex “Alpha Park” an der Borsteler Chaussee erregten und sich fragten, warum denn gerade hier die vielen Büro- und Gewerbeflächen und nicht Wohnungen gebaut worden sind. Die Antwort liegt 160 Jahre zurück.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhundert war die Gegend entlang der Tarpenbek vom Rosenbrook hinauf bis zum Brödermannsweg völlig unbebaut. Die überwiegend nassen Wiesen entlang der Tarpenbek befanden sich im Besitz der beiden Vollhufner (Großbauern) Peter Hinsch (Dorfvogt) und Peter Mähl. Durch den Verkauf ihrer Grundstücke legten sie den Grundstein zum heutigen Gewerbegebiet.
Es begann mit dem Gebiet, auf dem sich heute “REWE” befindet. 1846 verkaufte Peter Hinsch “seine Wiese am Mühlenteich”, der sich damals noch bis nach Borstel erstreckte. Zwei Hamburger Kaufleute legten dort eine “Nickelfabrik aus sogen. Kobaltspeise” an. Diesem Beispiel folgend, veräußerte drei Jahre später der zweite Vollhufner Peter Mähl sein nach Norden angrenzendes Grundstück – das heutige Gebiet des “Alpha Park”. Hier entstand zunächst eine Kattunfabrik, die bis in die 1860er Jahre arbeitete. Dann etablierte sich dort erstmals eine Lederfabrik.
Die Firma Munk & Neuhaus betrieb diese Fabrik bis ca. 1878, dann übernahm sie die Firma Hopf & Blaß. Und jetzt wird es richtig spannend. In der Hamburger Zeitung “Reform” wird berichtet, dass die Lederfabrik von Hopf & Blaß “unter eigenthümlichen Umständen den Flammen zum Opfer wird” (siehe Zeichnung).
Es muss dramatisch zugegangen sein, als die 5 Kinder des Werkführers Boos aus dem Vordergebäude – die Eltern waren an diesem Sonntagabend zu einem “Privatvergnügen” nach Hamburg gefahren – feststellten, dass das angrenzende Fabrikgebäude in hellen Flammen stand. Die alarmierten Feuerwehren aus Groß Borstel, Winterhude, Eppendorf und ein Zug aus Hamburg konnten dem entfesselten Element nichts mehr entgegensetzen, die Fabrik brannte bis auf die Außenmauern nieder. Nur das vordere Wohngebäude wurde gerettet. Man vermutete Brandstiftung, denn das Unternehmen lief schlecht und der Firmenteilhaber Blaß war schon vor mehreren Jahren nach Amerika ausgewandert. Von den ursprünglich 120 beschäftigten Arbeitern waren bis zum Zeitpunkt des Brandes nur noch 20 tätig – und die hatten ihre Lohnzahlungen nicht mehr bekommen. Das Gebäude, die Einrichtungen und Warenvorräte waren mit 300.000 Mark versichert, doch dummerweise blieben die großen “Vorräthe von Leder in den Gruben unterhalb des Erdbodens … gänzlich unversehrt”, so dass nur ein Gesamtschaden von 60.000 Mark entstanden war. Es ist keine Frage, dass nach diesem Brand die Firma Hopf & Blaß ihren Betrieb einstellte.
Am 1. Mai 1884 übernahm jetzt Heinrich Joseph Velten als dritter Nachfolger auf diesem Gebiet die Lederfabrik, und er sollte erfolgreicher werden als seine Vorgänger. Die Zeitumstände kamen ihm dabei zur Hilfe: 1870 war der letzte Elbzoll (bei Wittenberge) aufgehoben worden, und die Hamburger Kaufleute verstärkten den Ausbau des Überseehandels. Durch den Zollanschluss an das Deutsche Reich, d.h. durch den 1888 entstandenen Freihafen, konnten die benötigten Rohstoffe zollfrei eingeführt und die daraus erzeugten Halbfertigprodukte zollfrei wieder ausgeführt werden. H.J. Velten bezog seine Häute und Felle aus Übersee, hauptsächlich aus Argentinien. Häute von Stieren, Ochsen und Kühen liefern das stärkste Leder, so dass sie meistens zu Sohlenleder verwendet werden. Genau das stellte Velten in seiner Fabrik her und verkaufte es an Schuhfabriken. Seine Geschäfte liefen bestens, und sein Betrieb erweiterte sich schnell. Velten betrieb eine Lohgerberei.
Der 1. Weltkrieg brachte dem Veltenschen Unternehmen zwar keine Nachteile – im Gegenteil, wie Sie gleich lesen werden -, allerdings große Probleme durch den Anschluss Groß Borstels an das öffentliche Sielnetz. Die Borsteler Chaussee war aufgegraben, und sein Fuhrmann musste deshalb fünf- bis sechsmal täglich mit schweren Fuhren von Rohstoffen und fertiger Ware über einen Bohlenweg, dessen Untergrund völlig aufgeweicht war. Nach 15 Monaten Geduld platzte ihm der Kragen. Er beschwerte sich bei der Senatskanzlei Hamburg, dass er seinen “Verpflichtungen zur Lieferung und Ausrüstung an die Kriegsbekleidungsämter zu Spandau & Dresden unter allen Umständen nachzukommen habe”. Und weiter heißt es, “es wäre doch auch wirklich unerhört, wenn ich den Militärbehörden schreiben müsste, dass ich meine Kriegslieferungen nicht zur Expedition bringen könnte wegen nicht Wiederherstellung der aufgerissenen Straße …”. Was meinen Sie, wie schnell der Sielanschluss fertig gestellt wurde und die Borsteler Chaussee wieder befahrbar? Der Krieg hat eben immer Vorfahrt!
H.J. Velten besaß inzwischen das gesamte Gebiet an der Borsteler Chaussee, von der Heilsarmee bis zur Tankstelle und bis hinunter zur Tarpenbek. Er starb nur fünf Jahre nach dem Krieg, 1923. Sein Sohn Ernst führte die Lederfabrik in der 2. Generation weiter und steuerte das Unternehmen durch die harten Jahre der Weltwirtschaftskrise (1928) und des 2. Weltkrieges. Wie sein Vater überlebte er den Krieg nur um fünf Jahre.
Als sein Sohn Joachim 1950 die Fabrik übernahm, hatten sich die Zeiten gründlich geändert. Groß Borstel wuchs durch den Flüchtlingsstrom auf ca. 20.000 Einwohner an. Die Wohnbebauung verdichtete sich und rückte der Lederfabrik immer näher. Im Jahr 1951 stellte die Behörde für das Gebiet an der Borsteler Chaussee erstmals einen Baustufenplan auf und orientierte sich dabei am vorhandenen Bestand – Bebauungspläne hatte es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben. Für das jetzt als Mischgebiet – wegen der Wohnbebauung am Eingang Groß Borstels/Ecke Rosenbrook – ausgewiesene Areal waren lediglich “gewerbliche und landwirtschaftliche Betriebe, Läden, Lagerräume und dergleichen zulässig”, solange “erhebliche Nachteile oder Belästigungen für die Bewohner oder die Allgemeinheit nicht zu befürchten sind”.
Joachim Velten verstand die Zeichen der Zeit. Als einer der ersten – es befanden sich dort u. a. noch eine Metall-, eine Dachpappen- und eine Maschinenbaufabrik – löste er 1953 die Fabrik auf, ließ die Gerbgruben zuschütten und gründete eine Grundsstücksgesellschaft für Vermietung und Verpachtung. Großen Unmut löste er bei den Borstelern aus, als er 1955 auf seinem Grundstück die erste BP-Tankstelle errichten ließ. Im Groß Borsteler Boten bat er um Verständnis, “dass Groß Borstel sich der zukünftigen technischen Fortentwicklung nicht ganz verschließen … kann. Ein Teil dieser Entwicklung ist die Motorisierung, und zum Auto gehört nun einmal die Tankstelle”. Wie Recht er hatte!
Mit dem Tod von Joachim Velten im Dezember 1987 endete das Familienunternehmen Velten in der 3. Generation nach über 100 Jahren. Zwei Jahre später verkaufte die Erbengemeinschaft Velten ihren Grundbesitz – es entstand der Bürokomplex “Alpha Park”.
Traute Matthes-Walk, im Mai 2005