PLÄTZE UND STRASSEN GESTALTEN

Abschied von der Automobilorientierung

Die Idee, den Platz vor dem Sportplatz am Brödermannsweg neu zu gestalten, den Straßenabschnitt davor zur Spielstraße umzuwidmen und so einen „Treffpunkt für Alle“ entstehen zu lassen, hat viel Zuspruch erfahren und lebhafte Diskussionen ausgelöst. Zufällig schrieb der renommierte Groß Borsteler Verkehrswissenschaftler Andreas Kossak schon zuvor einen Artikel in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Straßenverkehrstechnik“ (Ausgabe 5.2021, Seite 351 ff.), in dem er an einen klassischen, aber immer noch hochaktuellen Ansatz der Straßen- und Mobilitätsgestaltung erinnerte.

1961 veröffentlichte die amerikanische Journalistin Jane Jacobs ein vielbeachtetes Buch unter dem Titel „The Death and Life of Great American Cities“ (1976 in Deutschland erschienen: Tod und Leben großer amerikanischer Städte). Jacobs ging von folgender zentraler These aus: „Sie (die Stadtentwickler) wissen nicht, was sie mit den Autos in den Städten anfangen sollen, weil sie sowieso nicht wissen, wie sie funktionsfähige und lebendige Städte bauen sollen – mit oder ohne Autos.“ An diesen Ansatz knüpfte Alexander Mitscherlich 1972 mit seinem Buch „Die Unwirtlichkeit der Städte“ an. Es folgten eine Menge weiterer Veröffentlichungen, die neue Methoden der Stadtgestaltung diskutierten und die sich zum großen Teil auf ein Thema konzentrierten, das im Amerikanischen „Placemaking“, also Platzgestaltung genannt wird. Es entstand ein Ansatz, der leider heute im Zusammenhang mit der Verkehrs- bzw. Mobilitätswende kaum Beachtung findet.

Der Ansatz eignet sich auch zur Gestaltung von Innenstädten und Quartierszentren, womit wir schlussendlich bei Groß Borstel gelandet wären.

Wikipedia definiert Placemaking so: „Placemaking ist ein facettenreicher Ansatz zur Planung, Gestaltung und Verwaltung von öffentlichen Räumen. Placemaking nutzt die Vorzüge, Inspiration und das Potenzial einer lokalen Gemeinschaft mit der Absicht, öffentliche Räume zu schaffen, die die Gesundheit, das Glück und das Wohlbefinden der Menschen fördern. Es ist politisch aufgrund der Natur der Ortsidentität. Placemaking ist sowohl ein Prozess als auch eine Philosophie, die sich städtebaulicher Gestaltungsprinzipien bedient.“

Sich auf die Menschen zu konzentrieren und nicht auf die Automobile, das war das Ziel der fortschrittlichen Verkehrspolitik der sechziger Jahre. In den Siebzigern griffen dies Freiraumgestalter, Architekten und Stadtplaner auf, um damit einen Prozess zu initialisieren, mit dem öffentliche Plätze, Straßen, Parks und Uferzonen geschaffen werden, die auf die Menschen anziehend wirken. Das erforderte eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, die seit 1975 beispielsweise in dem sich ständig aktualisierenden Forschungsprojekt mündete, das den idyllischen Titel trägt: „Was, wenn wir unsere Städte um Plätze herumbauen“.
Ein Ausschnitt: „Placemaking regt die Leute zur kollektiven Neuinterpretation und Neuerfindung von öffentlichen Räumen als Herzen ihrer Nachbarschaft an. Durch die Stärkung der Beziehung zwischen den Menschen und den Orten, die sie gemeinsam nutzen, handelt es sich beim Placemaking um einen gemeinsamen Prozess der Gestaltung der öffentlichen Umgebung, mit dem Ziel der Maximierung gemeinsamer Werte. Mehr als lediglich die Förderung einer besseren urbanen Gestaltung unterstützte Placemaking die Schaffung von kreativen Mustern der Nutzung, indem es sich insbesondere mit den physischen, kulturellen und soziologischen Identitäten beschäftigt, die einen Ort definieren und eine ständige Evolution dessen unterstützen.“

Eine Utopie-Collage aus den 70er Jahren und das Buch von Alexander Mitscherlich

Nichts anderes entsteht zurzeit in Groß Borstel. Der RISE-Prozess beteiligt uns über Jahre an der Gestaltung des Zentrums Groß Borstels. Dabei geht es nicht allein darum, es den „Profis“ zu überlassen, wie die Gestaltung dann später aussieht – nichts gegen die Architekten, Freiraum- und Stadtplaner sowie die verschiedenen Fachämter. Es geht mehr – und besonders bei RISE – um die Beteiligung der Bürger. Hier müssen wir (die Bürgerinnen und Bürger) sensibel jede Bevormundung, jedes Abwimmeln, jeden Verweis auf „höher gelagerte“ Planungsprozesse unterbinden und im kreativen Prozess die Zwangsjacke der Sachzwänge ablegen. Der ganze Duktus des Prozesses darf nicht den Anschein erwecken, die Bürgerbeteiligung sei die unterste Stufe der Planung. Es wäre genau hier ein Machtmissbrauch, die Bürgerinnen und Bürger bei den Entscheidungen nicht transparent zu beteiligen, sondern ihre Vorschläge von den Bedenkenträgern öffentlicher Belange überstimmen zu lassen.

Die neuseeländische Stadt Auckland (Maori: Tāmaki Makaurau) hat einen Gestaltungskatalog für Verkehrsplanung erstellt, der für alle Architekten, Städtplaner und Handwerksbetriebe verbindlich ist. Auf 144 Seiten werden eine Vielzahl von tatsächlichen Problemsituationen analysiert und Lösungswege aufgezeigt. Durchgangsverkehr kommt in dem Guide nicht mehr vor.

Der Aufsatz von Andreas Kossak in der Zeitschrift Straßenverkehrstechnik über Placemaking erinnert kommunale Verwaltungen (und mich als Soziologen) an die Aufbruchstimmung der sechziger und siebziger Jahre in der Stadtplanung. „Demokratie wagen“ war das Stichwort seiner Zeit.

Lieber Dr. Kossak, herzlichen Dank dafür, die Kopie aus der „Straßenverkehrstechnik“ in den Briefkasten der Boten-Redaktion zu stecken.
Uwe Schröder

BUs

  1. Titel
  2. Eine Utopie-Collage aus den 70er Jahren und das Buch von Alexander Mitscherlich
  3. Die neuseeländische Stadt Auckland (Maori: Tāmaki Makaurau) hat einen Gestaltungskatalog für Verkehrsplanung erstellt, der für alle Architekten, Städtplaner und Handwerksbetriebe verbindlich ist. Auf 144 Seiten werden eine Vielzahl von tatsächlichen Problemsituationen analysiert und Lösungswege aufgezeigt. Durchgangsverkehr kommt in dem Guide nicht mehr vor.