Vögel in Groß Borstel
Der Kernbeißer
Vor allem, wenn er im Frühjahr sein Prachtkleid trägt, zieht er die Blicke auf sich: Der Kernbeißer (Coccothraustes coccothraustes), die größte in Europa heimische Art der Finken (Fringillidae). Mit seiner gedrungenen Gestalt, seinem großen Kopf und insbesondere dem sehr kräftigen, kegelförmigen Schnabel kann man ihn kaum mit anderen Vögeln verwechseln. Gleiches gilt für sein Gefieder: Der Kopf des Männchens ist gelb bis rotbraun und durch ein breites graues Nackenband mit dem dunkelbraunen Rücken verbunden. Die schmale Schnabeleinfassung und der Kehlfleck sind tiefschwarz. Auch die blauschwarzen Flügel mit einem weißen Band im Bereich der Handschwingen fallen auf. Brust und Bauch zeigen sich rötlich- bis zimtbraun. Die Weibchen sind heller und weniger intensiv gefärbt als die Männchen und ihre Gefiederfarben sind weniger scharf abgegrenzt. Der Schnabel variiert zwischen dunkelgrau bis beigegrau im Winter und blaugrau bis schwarzblau im Sommer. Bauch, Brust und Flanken der Jungvögel sind gefleckt, beim männlichen Jungvogel grober als beim weiblichen.
Ausgewachsene Kernbeißer erreichen eine Länge von 16,5 bis 18 cm, die Flügelspannweite beträgt 29 bis 33 cm, das Gewicht 48 bis 62 Gramm. Sie sind deutlich größer als ein Sperling und etwas größer als ein Gimpel (Dompfaff).
Der Name Kernbeißer weist auf seinen charakteristischen großen Kegelschnabel hin. Mit den Schneiden des Oberschnabels, der ausgehöhlten Führung des Unterschnabels und entsprechender Muskulatur ist dieser kräftig genug, mit einem Druck von 40 bis 50 kg Obstkerne zu knacken.
Neben Kernbeißer ist mundartlich auch der Name Kirschkernbeißer gebräuchlich. Weitere regionale Namen sind Kirschfink, Kirschvogel, Kirschbeerfink, Kirschenknipper, Steinbeißer und Knospenbeißer. Auch ist der Name Finkenkönig gebräuchlich, weil der Kernbeißer sowohl der Größte unter den Finken ist, als auch die Futterplätze dominiert, indem er Nahrungskonkurrenten energisch vertreibt.
Der wissenschaftliche Name Coccothraustes setzt sich zusammen aus dem griechischen kokkos (der Kern) und thrauein (zerbrechen).
Der im Gegensatz zu seiner Größe und seinem prächtigen Gefieder unscheinbare Gesang des Kernbeißers wird auch als „Schwätzen“ bezeichnet und besteht meist aus einer sich ständig verändernden Aneinanderreihung seiner Ruflaute, die wie gegeneinanderschlagende Münzen klingen. Das Schwätzen dient allein der Festigung des Paarzusammenhalts und hat keine reviermarkierende Bedeutung.
Kernbeißer leben in Europa, Nordafrika und Asien. In Mitteleuropa sind sie Standvögel. Die nord- und osteuropäischen Populationen hingegen sind Teilzieher und überwintern in Westeuropa oder im Mittelmeergebiet. Der Kernbeißer tritt aber auch als Strichvogel auf, indem er zwischen Herbst und Frühjahr nahrungsbedingte Wanderungen unternimmt.
In Europa ist diese Finkenart ein typischer Bewohner der Eichen- und Hainbuchenwälder, der während der Brutzeit aber auch lichte Laub- und Mischwälder mit Unterbewuchs und lichte Auwälder aufsucht. In Vorstadtbezirken mit Gärten, in Parkanlagen und Friedhöfen mit altem Baumbestand und in Streuobstwiesen lässt er sich ebenfalls beobachten. Voraussetzungen für Brutvorkommen sind das Vorhandensein von Sämereien, Raupen und geeigneten Nistplätzen. Am einfachsten kann der Kernbeißer im Herbst und Winter beobachtet werden. Denn in diesen Zeiten sammelt er häufig auf den Boden gefallene Samen und Kerne oder nutzt das Angebot der Futterhäuser in den Gärten. Hingegen hält sich der Vogel während der wärmeren Monate knospen- und früchtepflückend überwiegend in Baumkronen auf und ist dementsprechend schlechter zu entdecken.
Kernbeißer ernähren sich hauptsächlich von Samen der Hain- und Rotbuchen sowie des Feldahorn und von Früchten wie Kirschen, Zwetschgen, Pflaumen, Schlehen, Mehlbeeren oder Hagebutten. Auch Haselnüsse und Walnüsse sind auf seinem Speiseplan zu finden. In der Brutzeit fängt der Kernbeißer Insekten, Raupen und Würmer als erste Nahrung für die frisch geschlüpften Nestlinge.
Kernbeißer werden im auf das Schlüpfen folgenden Jahr geschlechtsreif. Sie leben monogam, bleiben meist mehrere Jahre zusammen und brüten einmal im Jahr, wobei die Brutzeit in Mitteleuropa witterungsabhängig zwischen Anfang April und Ende Juni liegt.
Die Balz beginnt mit der Auswahl des Brutplatzes durch das Männchen. Dabei findet die Paarbildung sowohl durch Gesangs- und Imponierbalz als auch durch Demuts- und Bettelbalz statt. Beide Balzvarianten werden durch Schnäbeln mit und ohne Futterübergabe ergänzt und führen meist zur Kopulation.
Ist das Männchen an einem Platz interessiert, duckt es sich in eine Astgabel und lockt das Weibchen herbei. Setzt das Weibchen sich an dieselbe Stelle, signalisiert es damit das Einverständnis. Daraufhin fliegt das Männchen auf, holt ein Stöckchen und übergibt es dem Weibchen für den Beginn des Nestbaus. Es kann aber auch vorkommen, dass das Weibchen einen Nistplatz vorschlägt, dann verzichtet das Männchen auf das Anbieten einer Astgabel und holt unmittelbar ein Stöckchen als Startsignal für den gemeinsamen Nestbau. Kernbeißerpaare bauen ihre Nester gemeinsam und bevorzugen dabei stets die sonnenbeschienene Seite des Baumes und einen Platz nahe am Stamm.
Gegenüber Artgenossen verteidigt das Paar nur ein kleines Nestumfeld, während andere Vögel ausnahmslos großflächig vertrieben werden. Dementsprechend brüten mitunter drei bis sechs Kernbeißerpaare zusammen. Aber ebenso sind auch Einzelbruten und Brutgemeinschaften von bis zu zwanzig Paaren möglich.
Das aus Unterbau, Zwischenlage und Auspolsterung bestehende napfförmige Nest ist nach Fertigstellung etwa 11 cm breit und zwischen 7,5 und 12,5 cm hoch.
Die Eiablage beginnt am frühen Morgen nach der Beendigung des Nestbaus. Dabei beträgt die Gelegegröße in Mitteleuropa meist fünf ovale Eier, die in der Farbe zwischen hellblaugrau und hellgrüngrau variieren und einige kräftige schwarzbraune Punkte und Striche aufweisen.
Während der 12- bis 14tägigen Bebrütung wird das Weibchen vom Männchen mit Nahrung versorgt. Nach dem Schlüpfen frisst das Weibchen die Eierschalenreste und zunächst auch den Kot der Jungen, um den Nistplatz nicht an Fressfeinde zu verraten. In den ersten Lebenstagen hudert das Weibchen die Küken intensiv, während das Männchen vor allem die Nahrungsbeschaffung übernimmt. Später beteiligen sich beide Altvögel an der Fütterung. Dabei sucht das Männchen in einem Umkreis von zwei bis drei Kilometern um das Nest nach Nahrung, hingegen bleibt das Weibchen in Nestnähe. Im Alter von 10 bis 11 Tagen sind die Jungvögel erstmals in der Lage, bei Gefahr das Nest zu verlassen. Wenige Tage später klettern sie als sogenannte Ästlinge auf Äste und Zweige in Nestnähe. Mit 16 bis 19 Tagen sind die Jungvögel flugfähig und ziehen, begleitet von den Eltern, auf Nahrungssuche. Nach etwa 30 Tagen ist der Nachwuchs selbstständig.
Kernbeißer haben, bedingt durch die offene Nestbauweise, hohe Brutverluste – insbesondere durch Habichte, Sperber und Wanderfalken, aber auch durch Eichelhäher, Eichhörnchen, Katzen und Marder. Untersuchungen haben gezeigt, dass der Bruterfolg der Kernbeißer unter 20 Prozent liegt trotz Nachgelegen bei Brutverlust. Ringfunde belegen, dass freilebende Vögel maximal 12 Jahre alt werden, in Gefangenschaft aber ein Alter von 15 bis 20 Jahren erreichen.
In Hamburg gibt es circa 550 Kernbeißer-Brutreviere. Dabei zeigt sich der Bestand konstant, sodass der schöne Vogel nicht als gefährdet gilt. Obwohl er eigentlich ein Waldvogel ist, hat er die Vorteile – insbesondere im Winter – der Nähe zum Menschen und zu menschlichen Siedlungen erkannt. Wer den im Winterhalbjahr notleidenden Vögeln in Futterhäusern Sonnenblumenkerne und Erdnüsse anbietet, hat auch in Groß Borstel ganz große Chancen den schönen Kernbeißer als regelmäßigen Besucher im heimischen Garten betrachten zu dürfen.
Text und Fotos: Michael Rudolph