Wladimir Köppen und die Drachenstation

HÄUSER, DIE GESCHICHTEN ERZÄHLEN

EXTRATEXT GROSS:
„Es ist der Überblick über das Ganze, dessen wir zur richtigen Auffassung vor allem auch der Einzelheiten bedürfen; diesen Überblick können wir aber mit noch so vielen Stationen nicht gewinnen, wenn wir an der Erdoberfläche kleben bleiben.“

Am 1. Januar 1868 wurde in Hamburg die Norddeutsche Seewarte gegründet. 1881 ging sie in die „Deutsche Seewarte“ über und zog vom Seemannshaus in ein neues dreigeschossiges Gebäude auf dem Stintfang mit vier stattlichen Türmen an den Ecken. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude zerstört.

Die Seewarte machte es sich zur Aufgabe, Wind- und Strömungsverhältnisse auf den Meeren zu erforschen und die Ergebnisse der Seeschifffahrt zur Verfügung zu stellen. Die Forschungszweige der Hydrografie und Meteorologie wurden geboren. Küstenlinien wurden vermessen, Wetterdaten gesammelt und meeresphysikalische, meteorologische und sogar erdmagnetische Beobachtungen notiert. Ein Sturmwarndienst wurde eingerichtet.

Durch den Austausch mit ähnlichen Organisationen im Ausland wurde die Deutsche Seewarte auch international bekannt. Zu ihren herausragenden Forschern gehörten Wladimir Köppen, Christian Koldewey, Albert Wigand, Johannes Georgi sowie Alfred und Kurt Wegener. Einige dieser Namen sind den Groß Borstelern gut bekannt, denn manche Straßen tragen in Groß Borstel ihre Namen – und das mit gutem Grund.

Waldimir Peter Köppen, 1846 geboren, wuchs als Sohn deutscher Eltern in St. Petersburg und der Krim auf. Sein Urgroßvater stammte aus Mecklenburg und war Leibarzt des Zaren. Sein Vater war Geschichtsforscher und arbeitete zeitweise im russischen Verwaltungsdienst. Er hatte auf der Krim bei Karabagh ein Weingut gekauft und verbrachte mit seiner Familie dort viele Monate im Jahr.

Wladimir Köppen ging deshalb abwechselnd in Simferopol und in St. Petersburg auf das Gymnasium und begann, sich auf den Reisen zwischen St. Petersburg und Simferopol beim Durchqueren der verschiedenen Klimazonen für Wetterphänomene zu interessieren. Nach einem Studium der Naturwissenschaften in Heidelberg arbeitete Köppen von 1872 bis 1875 zunächst in Sankt Petersburg beim Russischen Meteorologischen Dienst und war Sekretär der „Russischen Geographischen Gesellschaft“. Schon 1868 hatte Köppen seine erste Publikation über Meteorologie veröffentlicht. Im Laufe seines Lebens sollten 525 weitere Veröffentlichungen folgen, darunter eine Reihe von richtungsweisenden Büchern.

Im Mai 1875 wurde Köppen zum Vorstand der „Abteilung III für Wettertelegraphie und Sturmwarnungswesen“ an die Seewarte in Hamburg berufen und begann, einen synoptischen Wetterdienst aufzubauen, für den er geeignete Beobachtungsstellen einrichtete.

Im Februar 1876 ließ Köppen die erste Europawetterkarte veröffentlichen, und bald folgten tägliche Wettervorhersagen. Köppen entwickelte ab 1898 die neue Technik der Drachenaufstiege, um meteorologische Daten aus höheren Schichten zu erhalten und begründete mit seinen Forschungsergebnissen die Wissenschaft der Aerologie. Seine ersten Versuche machte er am Isebek-Kanal.

Dann wurde es dort zu eng und 1903 errichtete er in Groß Borstel, damals noch ein Dorf außerhalb von Hamburg, eine neue größere Drachenstation. Diese befand sich auf einem Feld zwischen dem Moorweg und dem Licentiatenberg, ungefähr dort, wo sich jetzt der Wigandweg befindet. Vor der Station verlief der „Weg an den Spargelfeldern“, der den Moorweg mit dem Licentiatenberg verband. Die Anlage bestand aus zwei Holzgebäuden. Im Hauptgebäude befanden sich eine Halle zur Aufbewahrung der Drachen, ein Ballonschuppen für Registrier- und Pilotballons, eine Werkstatt und eine Schreibstube.

Das zweite Gebäude war ein drehbares Windenhaus mit motorbetriebener Winde. Köppen baute die Drachen selber, experimentierte mit verschiedenen Formen und besorgte einen fahrbaren Haspel: eine Winde, mit der man Seile oder Draht aufwickeln konnte. Ganz besondere Sorgfalt legte er bei der Auswahl der Drachenleinen an den Tag und entwickelte verschiedene Methoden, um die Reißfestigkeit zu prüfen. Für seine Drachenaufstiege hatte er mehrere Helfer aus Groß Borstel. Namentlich bekannt sind die Herren Bethge, Schwitzer und Butenschön.

Im 18. Jahrhundert hatten die Menschen begonnen, den Luftraum für sich zu erobern. 1752 wies der spätere Präsident der USA Benjamin Franklin mit einem Wetterdrachen Elektrizität in der Atmosphäre nach. Nach dem ersten Ballonflug der Brüder Mongolfier 1783 begann man auch mit bemannten wissenschaftlichen Ballonflügen. Einige Wissenschaftler erreichen mit dem Ballon Höhen von fast 10.000 Metern, stellten dort Temperaturen von unter minus 40 Grad fest und bezahlten ihre wissenschaftliche Neugier mit Ohnmacht, Taubheit oder sogar mit dem Leben, so geschehen bei einem Ballonaufstieg französischer Meteorologen auf 8000 Meter im Jahr 1875. Mit dem Drachen war es nicht so gefährlich, es ging aber auch nicht ganz so hoch hinaus. 1899 wurde bei Paris der damalige Rekordwert von 4300 Meter Höhe erreicht, 1900 erreichte ein Drachen in einem Observatorium in den USA sogar 7000 Meter Höhe.

Über Groß Borstel flogen die Drachen nicht so hoch. Meist ließ Wladimir Köppen seine Fluggeräte auf etwa 2000 bis 4000 Meter aufsteigen und maß Luftdruck, Temperatur, Feuchtigkeit, Windgeschwindigkeit und Windrichtung. Bald nachdem er hier die Drachenstation eingerichtet hatte, zog Köppen mit seiner Familie ebenfalls nach Groß Borstel. 1903 kaufte er ein Haus mit Garten in der Violastraße 7. 1934 wurde die Straße, inzwischen verlängert, zu Ehren des Forschers in Köppenstraße umbenannt.

An windigen Tagen hatte es Wladimir Köppen also nicht weit zur Arbeit. Wenn kein Wind wehte, fuhr er zur Arbeit in sein Büro in der Deutschen Seewarte, warf dort aber regelmäßig Federn aus seinem Bürofenster und fuhr sofort zu seiner Drachenstation, um dort seine Wetterdrachen steigen zu lassen, wenn die Federn von aufkommendem Wind verweht wurden.

Viele internationale Meteorologen und Wissenschaftler gingen in Köppens Haus ein und aus. Groß Borstel war zu der Zeit das Mekka der Meteorologen. Einer von ihnen, Alfred Wegener, blieb. Er heiratete 1913 Köppens Tochter Else und zog zu Köppen in die Violastraße.

Alfred Wegener ging später als Entdecker der Kontinentaldrift in die Wissenschaftsgeschichte ein. Auch sein Bruder Kurt Wegener, ebenfalls ein Meteorologe, arbeitete für die Deutsche Seewarte und wohnte in Groß Borstel, in der Nähe von Köppens Haus. 1914 wurden die Drachenaufstiege in Groß Borstel durch zunehmende Bebauung erschwert und schließlich eingestellt. Die Groß Borsteler Station war aber in seinem Aufbau das Vorbild für viele Stationen, die im Ersten Weltkrieg zur Ermittlung von Wetterdaten vom Reichsheer an der Front eingerichtet wurden.

1919 trat Wladimir Köppen in den Ruhestand. Alfred Wegener wurde sein Nachfolger in der Deutschen Seewarte. 1921 wechselte Wegner als Professor an die Universität Hamburg und erhielt 1924 einen Ruf an die Universität Graz.

Wladimir Köppen folgte seinem Schwiegersohn und seiner Tochter nach Österreich. 1924 veröffentlichten Köppen und Wegener gemeinsam ein Buch über die Klimaschwankungen der Erdgeschichte, „Klimate der geologischen Vorzeit“ (1924). In seinem Werk „Geographisches System der Klimate“ von 1936 legte Köppen als Erster eine objektive Einteilung der Erde in Klimazonen vor, die nach ihm benannte Köppen-Klassifikation.

Sein Schwiegersohn Alfred Wegener war 1930 bei einer Grönlandexpedition auf tragische Weise ums Leben gekommen. Wladimir Köppen starb am 22. Juni 1940 in Graz, seinerzeit Deutsches Reich.

Seine Klassifikation der Klimate ist bis zum heutigen Tage gültig.
André Schulz